Dark World I. Tillmann Wagenhofer
verfolgte, um eines ihrer Probleme zu lösen. Wie niedlich, dachte er.
Denn Red Sid war im Grunde ein lebender Frevel. Das hörte sich im ersten Moment komisch an, aber betrachtete man Red Sid nur einen Augenblick, wusste man, was damit gemeint war. Denn Red Sid war ein Mensch, der schon sehr lange lebte. Die Priester sagten, es sei ein Gift der Alten, das dafür verantwortlich sei, die Inquisition spielte mit der Idee, es könne ein Fluch sein, für den man seinesgleichen am besten verbrennen sollte - aber damit waren sie zögerlich. Denn nicht wenige sogenannte "Gestrafte" dienten als erfahrene Krieger - ihrem fürchterlichen Aussehen zum Trotz - in den Reihen der Truppen der Kirche und auch der von Fürsten und Kriegsherren. Sicher, bisweilen hängte man den "Gestraften" eine örtliche Seuche oder eine Hungersnot an und brachte ein paar von seiner Art um, aber das kam nur selten vor.
Die Gestraften sahen im Grunde aus wie Menschen, denen die Haut teilweise abgefault war, denen die Muskelstränge offen lagen. Kinder in den Dörfern rannten ihnen nach und riefen "Monster, Monster" oder Ähnliches, "normale" Menschen mieden sie wie den Gelben Tod. Aber das machte sie nicht zu schlechteren Söldnern, die - vor allem in Kriegszeiten - sehr begehrt waren.
Zu gut waren die auf furchtbare Weise entstellten "Gestraften" bei dem, was sie taten. Kein Wunder, immerhin besaßen nicht wenige von Red Sids Art hunderte Jahre Erfahrung in Kampf und Aufklärung. Jeder Kriegsherr, der auf ihre Dienste verzichtete und gegen einen Feind zog, der "Gestrafte" in seinen Reihen hatte, musste damit rechnen, gnadenlos unterzugehen. Kein zivilisierter Mensch konnte sich mit Red Sid oder seinesgleichen messen, was Aufklärung, aber selten genug auch, was den Kampf anging. Auch Auftragsmorde wurden von gewissen "Gestraften" zuverlässig ausgeführt. Red Sid grinste freudlos bei dem Gedanken an die sogenannten "Zivilisierten" im Osten. Brutal, unmenschlich waren nur zwei Worte, die ihm in Bezug auf die stinkenden, verschmutzten, übervölkerten Moloche einfielen, die auf jenen bröckelnden Ruinen standen, welche einst Städte der Alten gewesen waren. Intrigen, Kleinkriege und das damit einhergehende Elend hatten einen riesigen Pool von Söldnern geschaffen, gut ausgerüstet und erfahren, mit welchen sich meist nur die Leibwachen der Fürsten und - natürlich - die Ordenstruppen messen konnten, sollte jemand dumm genug sein, gegen letztere anzutreten (und damit gegen die Kirche - niemand aus den Zivilisationen im Osten hatte das seit Menschengedenken gewagt). Aber die Krieger der Stämme, jene wilden, freien und erbarmungslosen Völker, wuchsen in den Ödlanden auf - ihnen war die Kirche egal, sie waren gefährliche Gegner, auch wenn ihre Zerstrittenheit sie nie zu einer echten Gefahr für die Zivilisation in den Städten werden ließ. Die Tribes mochten nicht die lange Erfahrung der "Gestraften" besitzen - dafür sorgten die mitleidlosen Ödlande früh genug - aber sie kannten die verwüsteten Länder weit besser als jeder Eisenmensch. So nannten die Stämme die Städter und die Kirchenleute. Die Kirche hatte bereits zwei Kreuzzüge gegen die Tribes geführt, beide mit mäßigem Erfolg, da die Stämme schwer zu fassen waren in der Weite des Landes, vor allem aber östlich der Berge, wo das Landmeer scheinbar kein Ende nahm. In blindem Zorn hatten die Kirchentruppen und ihre Verbündeten Frauen und Kinder sowie wenige Gefangene niedergemetzelt, was ihnen die Stämme nie vergessen hatten. So war der unnötige Hass zwischen den sesshaften und den umherziehenden Völkern noch gewachsen.
Red Sid schob die Staubmaske wieder über seinen Mund, rückte das Kettenhemd, welches an einigen Stellen mit Metallplatten verstärkt war, unter seinem Umhang zurecht. Er roch den Rauch, ehe er ihn sehen konnte. Denn der Wind drückte den schwarzen Qualm herunter, so dass er nicht in den Himmel stieg. Red Sid trieb sein Reittier an, als ihm bewusst wurde, dass in dieser Richtung ein kleines Dorf lag, eigentlich eher ein Weiler mit vier Familien. Der Jäger fluchte erneut, als er über den Hügel kam und die Feuer in der Ferne sah. Diese Dreckskerle, dachte er. Sie haben die Richtung geändert, sicher haben sie die Häuser aus der Ferne gesehen. Sid trieb den Ecar ohne Rücksicht an, flog nach wenigen Sekunden bereits über die staubtrockene Erde. Normalerweise zog er das Anschleichen und Dezimieren eines Feindes vor - aber genau diese Wahl hatte er in dem Fall nicht. Denn er sah die Raider, wie sie sich zwischen den brennenden Häusern - eigentlich eher Hütten - bewegten. Red Sid wusste, dass jeder Augenblick zählte, wollte er noch Menschen retten, die diesen erbarmungslosen Schweinen in die Hände gefallen waren. Ruhig überprüfte er den Sitz seiner Waffen - Reitersäbel, Kurzbogen, zwei Wurfspieße - dann fegte er auch schon direkt auf die ersten beiden Gebäude zu. Sid kannte die Zahl der Feinde von ihren Spuren her. Schnelligkeit und Überraschung gaben ihm eine gute Chance gegen die zahlenmäßige Überlegenheit. Die Möglichkeit, dass einer der Gegner ein früherer Soldat aus den Städten oder gar ein Ritter war, musste er leider auch in Betracht ziehen, auch wenn letzteres nur selten vorkam.
Ein Raider kam gerade lachend aus einem dieser Häuser, seine abgetragene Lederkleidung voller Blut. Das letzte, was er in seinem Leben sah, war die Spitze des mit Widerhaken bewehrten Wurfspießes, ehe dieser genau zwischen seinen Augen in seinen Schädel einschlug. Ohne groß darauf zu achten, raste Sid weiter, sein Säbel beschrieb einen Bogen, als er einen weiteren Raider vor sich auftauchen sah. Der Kopf des Mannes, bärtig und mit einem Ausdruck völliger Überraschung auf seinem Gesicht, flog durch die Luft. Dummerweise saßen die beiden anderen Raider bereits im Sattel von zwei Ecars und reagierten schnell. Einer trieb sein Tier an und hielt einen Speer stoßbereit vor sich, der andere blieb stehen und nahm einen Bogen zur Hand. Sid stieß wieder einen Fluch aus, dann warf er seinen verbliebenen Spieß kraftvoll durch die Luft. Er hatte keine Zeit, nachzusehen, ob er getroffen hatte, denn im nächsten Atemzug musste er sich im Sattel nach rechts legen, um der Speerspitze des angreifenden Raiders um Haaresbreite zu entgehen.
Gedankenschnell beschrieb die Klinge seines Reitersäbels eine schnurgerade Linie rückwärts, ein Schrei war die Folge, als die Klingenspitze dem Speerträger in den Rücken fuhr. Sid schwenkte sein Tier herum, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der zweite Wurfspieß den Bogenschützen auch wirklich erwischt und praktisch auf seinem sterbenden Ecar festgenagelt hatte. In einer fließenden Bewegung nahm er seinen Reiterkurzbogen vom Rücken, samt einem Pfeil. Der Speerträger hatte indessen mühsam sein Tier gewendet, das mit fürchterlichen Mustern tätowierte, bärtige Gesicht bleich, aber hasserfüllt. "Du dreckiger…" Die Sehne spannen und den Pfeil auf die Reise schicken war eine geschmeidige Bewegung. Der gefiederte Tod traf den Raider direkt in seinen lästerhaften Mund und schloss diesen für immer, die Wucht des Aufpralls ließ den Mann - der keine Steigbügel hatte - nach hinten aus dem Sattel stürzen.
Red Sid sah sich um, nachdem nur noch das Heulen des Windes und das Geräusch der knisternden, unersättlichen Flammen zu hören war. Keine Schreie, kein Wimmern. Keine Bewegung mehr aus den zerstörten Hütten. Der "Gestrafte" holte tief Luft und verdrängte die Enttäuschung. Einige Leichen lagen zwischen den Hütten, zwei davon Frauen, die die Raider offensichtlich geschändet hatten, ehe sie sie umbrachten. Sid schüttelte den Kopf. Er war zu spät gekommen. Wie oft schon hatte er derlei gesehen? Und wie oft würde er es noch sehen müssen? Red Sid stieg aus dem Sattel und ging zu dem Raider, der samt seinem Ecar gestorben war. "Na, los, friss' dich satt", sagte er zu seinem eigenen Tier und gab seinem Ecar einen Tritt, den dieser mit einem drohenden Klacken seiner grausigen Zahnreihen beantwortete. Aber dann schien das Tier zu begreifen und begann - auf äußerst unappetitliche Weise, indem es die beiden toten Körper erst mit seinen Klauenhufen zerfetzte - das Festmahl. Red Sid ging - gegen jede Erfahrung - dennoch zu jeder der Hütten, die inzwischen - schon alleine, weil sie aus trockenem, oft über viele Meilen hergeschleppten Holz bestanden - in hellen Flammen standen. Niemand lebte hier noch. Resignierend blickte er über die Ödlande, wo gerade die Sonne am Untergehen war, was zur Folge hatte, dass der westliche Horizont in gewaltigen, roten Flammen zu stehen schien. Der "Gestrafte" hatte dafür keinen Blick mehr, zu sehr erinnerte ihn diese Farbe an die leblosen Leiber der Opfer, die an diesem Tag ihr Leben verloren hatten. Bauern, einfache Dorfbewohner, zwar nicht gänzlich wehrlos, aber vermutlich überrascht durch den Angriff. Sid verzog das Gesicht, als er daran dachte, wie die Kirche es aufnehmen würde, dass ihr schon wieder Abgaben durch die Lappen gingen. Ja, die Pfaffen werden wieder meckern, dachte Sid kalt. Sie werden nicht fragen, was hier geschah, wie die Menschen hier gestorben sind. Ob ich sie beerdigt habe. Nichts davon wird die Kirche interessieren, überlegte er voller Bitterkeit.
Gerade wollte er sich auf den Rückweg zu seinem noch immer kauenden und schmatzenden Ecar machen, da hörte er etwas. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen. War das der Wind gewesen? In dem Moment