ChessPlanet - Edahcor's Geheimnis. Gabriella Gruber
überqueren den großen weißen Grenzstrich, von dem niemand wirklich weiß, warum er überhaupt existiert.
Anyta bleibt abrupt stehen. »Fang mich doch, wenn du kannst!«, ruft sie überraschend und läuft lachend voraus.
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und folge ihr lachend.
Am malerischen altstädtischen Markt entscheiden wir uns als erstes für den Früchte- und Gemüseladen. Hier gibt es alles, was unser Magen begehrt: von frischen Orangen und gereiften Erdbeeren über saftig grüne Gurken bis hin zu prallen Kartoffeln. Ich frage mich manchmal, wo sich dieser Ort befindet, wo all diese Sachen angebaut werden. Schließlich haben wir im Naturunterricht gelernt, wie unser Essen hergestellt wird. Aber wo, wissen wir nicht. Wir kennen nur den Namen des Ortes: Der Lebensgrund.
»Welche Früchte hast du auf deinem Einkaufszettel stehen, Ren?«
Ich falte das Papier auseinander und gehe die Liste durch. »Erdbeeren, Bananen und Weintrauben.«
Anyta nickt und schlendert zum Obstbereich. »Hier sind schon einmal die Bananen, da hinten sind die Erdbeeren. Nur die Weintrauben sehe ich nirgends.«
Neben mir entdecke ich zwei Fächer mit Obst. Oben sind Kirschen und darunter ... »Hier sind sie! Ich glaube, ich hole gleich mal einen Korb.«
»Gute Idee«, antwortet Anyta und stöbert weiter durch das Apfelregal. »Also am liebsten sind mir die Äpfel, wenn sie knallrot sind.« Sie hält einen leuchtend roten Apfel in ihrer flachen Hand und mustert ihn mit einem Lächeln im Gesicht. »So wie der zum Beispiel.«
Ich nicke. »Dann hast du dir genau das richtige Regal ausgesucht. Da sind ja fast alle in dieser kräftigen Farbe.«
Anyta legt den Apfel in den geflochtenen Korb und sucht noch vier weitere heraus.
»Fehlt noch das Gemüse«, sage ich vor mich hin.
»Was brauchst du?«
»Drei Tomaten und zwei Gurken.«
Sie geht zu den Fächern, holt, was ich brauche, und legt es elegant in meinen Korb. »So, erledigt«, sagt sie. »Was steht noch auf der Liste?«
»Also von hier habe ich alles. Du?«
»Ja, ich auch.«
»Gut, dann ab zur Kasse.«
Zwei weitere Kunden sind noch vor uns, dann sind wir an der Reihe. Frau Salery bedankt sich für unseren Einkauf und reicht mir den üblichen silbernen Kasten, an dem wir mit unseren Punkten bezahlen. Bis wir zehn Jahre alt sind, bekommen wir jeden Monat zehn, bis zwanzig Jahre hundert und die Erwachsenen erhalten dreihundert Punkte auf ihr Konto gutgeschrieben.
Ich stecke die Karte in den dafür vorgesehenen Schlitz, tippe meinen PIN ein und schon werden zehn Punkte abgezogen.
»Ach, ich Idiot!«, schimpfe ich mich selbst.
»Was denn?«, fragt Anyta.
»Ich habe die Sachen mit meiner eigenen Karte bezahlt.«
»Dann benutzt du die Karte deiner Eltern eben in einem anderen Geschäft.«
Ich nicke. »Es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben.«
Nachdem alles verstaut ist, verlassen wir den kleinen Obst- und Gemüseladen und stehen wieder auf dem Mosaikboden des Altstadt-Marktplatzes. Es ist schon fast Mittag, was sich auch merklich auf die Anzahl der Menschen auf dem Platz auswirkt. Der Boden hatte heute Morgen noch einen zitronenähnlichen gelblichen Ton, jetzt wirkt er durch das verstärkte Licht der Sonne eher sandfarben. Um die Rosen, die den Brunnen schmücken, fliegen viele Bienen wild umher, auf der steten Suche nach Nektar. Ihr Summen erfüllt die Luft und eine laue Brise weht uns durch die Haare.
Anyta schließt genießend die Augen, was mir ermöglicht, still und heimlich ihr Profil genauer zu betrachten: Ihre langen Wimpern, ihre elegant geschwungenen Augenbrauen, die rundliche Nasenspitze, rote und unberührte Lippen und ihr glattes Kinn. Ich liebe einfach alles an ihr!
Ich betrachte sie so lange, bis sie ihre Augen wieder öffnet und mich anlächelt.
»Wo gehen wir jetzt hin? Wie wäre es denn mit dem Buchladen da drüben? Mir geht langsam der Lesestoff aus. Ja, ich weiß, ich habe noch zehn andere Punkte auf meinem Zettel, aber ich kann jetzt nicht anders.« Die Aufregung, die sie jedes Mal vorm Betreten eines Buchladens zeigt, finde ich so niedlich, dass ich ihr nicht widersprechen kann.
Ich lege meinen Arm um sie. »Mach dir keine Sorgen. Ich gehe mit dir rein. Ich wollte mir auch mal wieder ein neues Buch besorgen.«
Ich greife in meine Hosentasche und hole einen zusammenklappbaren Stift hervor. Den habe ich immer bei mir, für alle Fälle. Dann nehme ich Anytas Einkaufszettel und schreibe in Großbuchstaben »BÜCHER« darauf.
»Jetzt ist es auf der Liste. Es kann uns niemand übelnehmen, dass wir nur unsere Einkaufsliste abklappern.«
Anyta lächelt. »Wie recht du hast, danke.«
»Los, komm! Die Bücher kaufen sich schließlich nicht von alleine«, rufe ich und ziehe Anyta lachend an der Hand mit mir mit.
ANYTA
Es gibt einfach nichts Besseres, als zwischen die Regale zu huschen und neue spannende Romane zu entdecken! Über fremde Welten, andere Orte und unbekannte Zeiten.
Die Bücherregale um mich herum sind riesig, jeweils am obersten Fach hängt ein dunkelblaues Schild, auf dem in Weiß das Genre steht. Die Fantasie-Abteilung ist mein Favorit: Ich liebe Geschichten über feuerspuckende Drachen, fliegende Pferde und goldsüchtige Kobolde. Und natürlich schöne Liebesgeschichten, die sind einfach unschlagbar!
Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf meine Umgebung. Ein paar Mal drehe ich mich im Kreis, dann halte ich inne und öffne meine Augen.
Mein Blick fällt auf ein Buch mit schwarzem Einband. Ich nehme es heraus und lese den Titel »In diversis mundi«.
Ich verstehe gar nichts. Was soll das bedeuten?
Der Einband ist aus schwarzem Leder. Kein Autor, nur dieser Titel in silberner Farbe. Das Buch hat meine volle Aufmerksamkeit, bis mich jemand an der Schulter antippt.
»Hey Anyta, ich glaube, ich habe ein spannendes Buch für mich gefunden: einen Thriller. Wie sieht's bei dir aus?« Renko fuchtelt mit dem ausgewählten Buch vor meinem Gesicht herum.
Ich halte ihm meinen Fund vor die Nase. »Schau mal. Weißt du, was das heißt?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Frag doch mal an der Kasse.«
Ich drehe das Buch um, um herauszufinden, wie viele Punkte dafür zu bezahlen sind, doch ich finde keinen Preis.
Schritte nähern sich und die Buchhändlerin steuert direkt auf uns zu.
Wie aus Reflex verstecke ich das Buch hinter meinem Rücken. Aus irgendeinem Grund will ich ihr das geheimnisvolle Exemplar nicht zeigen - etwas sagt mir, dass dieses Buch einzigartig und nicht für den Verkauf bestimmt ist.
Ich schaue zu Renko und flüstere: »Wir müssen das Buch verstecken.«
»Ich weiß nicht. Ich mag Diebe nicht«, flüstert er angespannt zurück.
»Ich weiß, aber mein Gefühl sagt mir, dass wir keine andere Wahl haben.«
»Dein Gefühl? Anyta, weißt du, was du da sagst?«
Ich nicke unmissverständlich.
Renko seufzt. »Schön. Du gehst mit dem Buch zur Leseecke dort drüben und ich tu so, als würde ich mir noch ein Buch raussuchen, um Frau Wozniak abzulenken. Alles klar?«
»Alles klar«, sage ich mit einem breiten Grinsen im Gesicht,