Bergdorf sucht... Bewohner. Josie Hallbach
Dieses Wochenende, so viel war klar, würde für alle Beteiligten ein Nachspiel haben.
Kapitel 4:
Den Rest des Tages war sie völlig durch den Wind. In den letzten Stunden hatte sich in ihrem Leben derart viel verändert, dass sie es selbst kaum fassen konnte.
Deshalb brauchte sie dringend einen Menschen, der sie auf den Erdboden zurückbrachte und mit dem sie sich vernünftig darüber unterhalten konnte. Sie wusste niemand, der dafür besser geeignet wäre als Julia. Außerdem musste sie ihr gegenüber ohnehin ein Versprechen einlösen.
„Ich habe gesagt, dass du es als erste erfahren wirst. Und jetzt ist es soweit“, begann sie und berichtete ihr dann mehr oder weniger detailgetreu vom Verlauf des letzten Abends. Nur das mit dem Bergdoktor–Roman ließ sie weg. Vielleicht schaffte sie es dadurch, diese Begebenheit aus ihrer Erinnerung zu löschen. Sie hatte das Heftchen an diesem Morgen noch vor dem Gottesdienst im Ofen verbrannt.
Julia lauschte andächtig in den Hörer. „Halleluja“, sagte sie zum Schluss. „Ich habe schon befürchtet, ihr beiden bringt das gar nicht mehr auf die Reihe. Dabei hat man es dir schon monatelang an der Nasenspitze angesehen, dass du verknallt bist. Aber das mit der Badewanne war wirklich originell, das muss man dem Dani lassen.“
„Etwas weniger originell wäre mir lieber gewesen. Ich kann nur hoffen, dass sich diese Geschichte nicht herumspricht. Was hättest du denn an meiner Stelle gemacht?“
Julia gluckste vergnügt vor sich hin: „Mädchen, ich fürchte, das willst du nicht wissen. Das würde deine Moralvorstellungen definitiv revolutionieren.“
Sie mochte Recht haben. Nur so konnte sie ihre Ansichten von einer heilen Welt noch ein wenig länger behalten. Deshalb lenkte sie anstandshalber vom Thema ab: „Dass Anne und Phillip inzwischen ebenfalls befreundet sind, weißt du sicherlich.“
„Ich habe es mir gedacht.“ Ihre Freundin seufzte theatralisch. „Ich sehe es kommen: Demnächst gibt es eine Doppelhochzeit in Lämmerbach und ich fungiere als ältliche Brautjungfer.“ Es klang zum Glück nicht völlig verzweifelt.
„Es gibt ja immer noch Robert Büchler, den Kuhmelker“, erinnerte sie Paula.
„Stimmt, aber den habe ich inzwischen abgeschrieben. Mein neuer Favorit ist Phillips Psychokollege, ein gewisser Wolf Steinmann. 38 Jahre, dunkle Locken, Vollbart und melancholische, fast schwarze Augen. Ich habe mir seine Bewerbung angeschaut und was soll ich sagen. Er interessiert mich. Ich werde also mit Hochdruck daran arbeiten, dass er mich im neuen Schuljahr nicht übersieht. Und falls das je mit ihm nichts werden sollte, heirate ich in letzter Not den alten Opa Vollmer und beerbe ihn nach seinem Tod.“
„Es beruhigt mich, dich versorgt zu wissen.“
„Du brauchst dir auf alle Fälle, keine Sorgen um mich zu machen. Dein Daniel hat mir übrigens vorgeschlagen, euch zu besuchen, wenn die Dokumentation über euren Almkäse gedreht wird. Er meinte, ich würde mich gut als dekoratives Hintergrundbild eignen. Eigentlich wollte ich schon immer mal ins Fernsehen kommen. Ich schätze, das wird meine Heiratschancen deutlich erhöhen.“
„Gibt es bereits einen Termin dafür?“
„Den 20. und 21. Juni. Du liebe Zeit, das ist ja schon in zwei Wochen. Mal sehen, ob ich von der Schule frei bekomme.“
Paula dachte kurz nach: „Denkst du, sie machen auch ein Interview mit der Lehrerin des Ortes?“
„Mit den Lehrerinnen“, verbesserte Julia. „Mein Kind, du vergisst, dass wir demnächst wieder Kolleginnen sind. Vermutlich wird das ein krisensicherer Job werden...“ Sie machte eine Pause und wartete auf Nachfrage. Paula tat ihr den Gefallen, obwohl sie schon ahnte, auf was es hinauslief.
„Weil du vermutlich bald ausfallen wirst. Potenzprobleme scheint der Junge ja keine zu kennen und du bist immerhin im besten Alter und müsstest genug Defizite angesammelt haben. Vielleicht bekommen sogar Anne und Phillip noch Nachwuchs.“
„Jetzt übertreib mal nicht“, protestierte Paula.
„Was bleibt einem in Lämmerbach anderes übrig, wenn man zwei Wochen lang eingeschneit und von der Zivilisation abgeschnitten ist? Außerdem glaube ich kaum, dass Herr Tannhauer Verhütungsmittel in seinem kleinen Laden führt.“ Julia kicherte vergnügt vor sich hin. „Falls die Anwendung bei euch überhaupt erlaubt ist.“
„Wir sind ein evangelisches Dorf“, betonte Paula sofort.
„Sprich trotzdem vorsichtshalber mit Pfarrer Ebershäuser darüber“, riet ihre Freundin spaßeshalber.
„Danke für den Tipp. Ich kann ihn ja demnächst vor dem Gottesdienst fragen. Ich bin gespannt, für welchen Predigttext er sich anschließend entscheidet.“
Kapitel 5:
Als Paula Montag früh aus ihren wirren Träumen aufwachte, brauchte sie erst einmal geraume Zeit, um zwischen Wirklichkeit und Hirngespinsten zu sortieren.
Hatte ihr Daniel tatsächlich seine Liebe gestanden, oder war das nur ein Trugbild ihrer Phantasie gewesen, genau wie die Kühe, die sie letzte Nacht zur Pflege anvertraut bekommen hatte und die im Materialraum der Schule untergebracht worden waren.
Ihre Schüler halfen ihr unwissentlich dabei. Paula hatte kaum das Klassenzimmer betreten, als ganz gegen alle Gewohnheit die Kinder augenblicklich verstummten. Zudem waren sie geradezu überpünktlich erschienen. Bevor ihre Lehrerin sie allerdings durch die Lernhölle jagen konnte, gab es Gesprächsbedarf.
„Fräulein Müller, sind Sie jetzt eigentlich mit dem Dr. Martin befreundet oder net?“, erkundigte sich Franz.
„Natürlich ist sie des“, wusste Fritz mit gewichtiger Miene zu verkünden.
Die anderen Kleinen nahmen diese Nachricht mit einem eifrigen Nicken auf.
Luisa streckte und berichtete stolz: „Ich hab genau gsehn, wie der Doktor Sie fast aufessn wollt und ihr Blus dabei ganz hoch grutscht is.“
„Und der Papa hat zur Mama gsagt: ‚Donnerwetter, geht der ran, da sind ma grad no rechtzeitig kommen.“, ergänzte Julia. Sie schien bei Bedarf über ein vorzügliches Gedächtnis zu verfügen, zumindest was heimische Zitate anbelangte. Beim schulischen Lernstoff dagegen haperte es manchmal. „Und irgendwas von Feuer hat er gsagt und von gefährlich und verbrennen.“
Paula wurde allein vom Zuhören heiß und sie hatte Mühe, zum dringend zu wiederholenden Lehrstoff zurückzufinden. Wenn die Kleinen schon so drauf waren, was erwartete sie dann erst am Nachmittag bei den Großen? Vermutlich würde Josepha sie aus lauter Eifersucht lynchen.
Doch seltsamerweise gab es von ihrer Seite keinerlei Ausfälle. Sie bedachte ihre Lehrerin sogar mit einer Spur Mitleid.
„Mei Schwester is jetzt an echter Fan von Tokio Hotel“, erklärte Georg bereitwillig. „Sie war in de Pfingstferien auf em Konzert von dene langhaarign Affn und hat a Autogramm von eum kriagt.“
Josepha war gern bereit, ausführlich von diesem prägnanten Erlebnis zu berichten. Ihre Kusine, bei deren Familie sie die Pfingstferien verbracht hatte, hatte Karten für das Konzert bekommen, und sie dazu eingeladen. Der Bill habe ja so eine tolle Ausstrahlung. Sie könne morgen gern mal ein Poster von ihm mitbringen und besäße auch eine CD von ihnen. Und er wäre kein bisschen eingebildet, obwohl er doch so berühmt sei. Sie summte etwas von einem „Taifun“ vor sich hin und behauptete, dieses Lied müsse selbst Paula kennen, weil es ständig auf MTV gesendet würde. „Jetzt wo ich de Bill kennenglernt hab, find ich de Dr. Martin dann doch a bissel alt“, gestand sie schließlich freimütig.
Davon wollte Nicole nichts hören. Sie schoss einen feindseligen Blick in Richtung Klasse ab und meinte: „Von wegen alt. Der hats noch voll drauf. Für meinen Onkel sind Frauen sowieso bloß ein netter Zeitvertreib.