Bergdorf sucht... Bewohner. Josie Hallbach
eine Seite der Geschichte war und sie ehrlichkeitshalber auch die andere Seite erzählen sollte. Sie gab sich also einen Ruck und bekannte: „Ich war damals schon in dich verliebt, wollte mir das aber nicht eingestehen und dachte, es wäre ohnehin hoffnungslos.“
Statt einer Antwort legte Daniel den Arm um sie und zog sie an sich. Mit deutlich mehr Nähe führte er seine Geschichte nun fort. „Christines Fehlgeburt und die ganze Situation drum herum hat mich ziemlich geschockt. Ich spürte, dass ich mich meiner Verantwortung stellen musste. Und dann warst du plötzlich am Tag danach verschwunden. Ich machte mir natürlich Sorgen, so wie alle anderen Lämmerbacher auch. Ein derartiger Hagelsturm ist kein Pappenstil und du wärst nicht die Erste gewesen, die eine solche Wettersituation falsch eingeschätzt hätte. Als Anne mir jedoch unterstellte, dass bei mir mehr dranwäre, wollte ich das nicht wahrhaben. Ich ärgerte mich. Dummerweise hatte ich gleichzeitig den Eindruck, dir gegenüber etwas gut machen zu müssen. Schließlich war ich in den vergangenen Monaten ziemlich ekelhaft gewesen. Deshalb kämpfte ich mich also mit Vollmers Hund durch Matsch und Kälte, rechnete bereits mit dem Schlimmsten und wurde hier oben von der besagten Auserkorenen körperlich intakt und nicht sonderlich freudig empfangen. Irgendwie hast du den Eindruck gemacht, als würdest du lieber von jemand anderem gerettet werden. Das glich in ungefähr einer kalten Dusche. Ich stellte mir die Sache mit dem Schlafsack deshalb als kleinen Racheakt vor. Natürlich hätte ich für mehr Holz sorgen oder dir meinen Schlafsack allein überlassen können. Das hatte ich ursprünglich sogar vor. Aber ich wollte sehen, wie weit du mit deiner Ablehnung gehen würdest und ob deine Distanz bei kühlen Temperaturen irgendwann endet.“
Ihr stand diese Szene deutlich vor Augen. Wie könnte sie diese Nacht auch je wieder vergessen?
Daniel schaute sie währenddessen erneut nachdenklich an und überlegte, ob er ihr den Rest auch erzählen oder besser gleich zum Ende überwechseln sollte. Er fühlte sich in Paulas Gegenwart manchmal mindestens genauso unsicher, wie sie es in Bezug auf ihn beschrieben hatte. Dieses für ihn zugegebenermaßen ziemlich ungewohnte Empfinden machte aber, wenn er ehrlich war, den eigentümlichen Reiz ihrer Person aus. Das, was er Phillip gegenüber gesagt hatte, stimmte. Paula war anders als alle Frauen, die er in seinem Leben näher kennengelernt hatte. Sie war durch und durch anständig. Sie versuchte nicht nur so zu wirken, nein, sie war es einfach, tief aus sich heraus. Sie verabscheute zweideutige Ausdrücke, flirtete nie und war erschreckend ehrlich, verlässlich und konsequent. Eigentlich in allem das genaue Gegenteil von ihm. Und genau das forderte ihn heraus. Er hatte zwar in den letzten Monaten die meiste Zeit damit verbracht, sich über sie aufzuregen, aber vielleicht war genau dies der Grund, weshalb er sie im Vergleich zu vielen anderen Frauen von Anfang an nie als langweilig empfunden hatte. Im Gegenteil, sie besaß die seltene Fähigkeit, ihn zu überraschen. So auch jetzt.
„Und wie ging es dann weiter?“, wollte sie wissen. Dabei stand ihr echtes Interesse ins Gesicht geschrieben. Sie musste unwillkürlich an den um sie geschlungenen Arm denken, als sie morgens gemeinsam mit ihm im Schlafsack aufgewacht war. Vielleicht hatte Daniel in dieser Nacht ja doch nicht von ehemaligen Freundinnen geträumt?
Er setzte zu einem schiefen Lächeln an und beschloss einen tapferen Vorstoß in Richtung Aufklärung zu wagen. Unter Paulas bieder wirkendem Äußeren schlummerte möglicherweise ein kleiner Vulkan, der nur darauf wartete, ausbrechen zu können. Temperament besaß sie genügend, daran gab es keine Zweifel und im Lauf der letzten - zumindest für sie beziehungsfreien - Monate sollten sich eigentlich genug Zärtlichkeitsdefizite angesammelt haben. Es würde folglich ein besonderes Vergnügen sein, bei diesem Ausbruch dabei zu sein. „Na ja, während du zu nächtlicher Stunde neben mir herumgezittert hast, überkamen mich urplötzlich einige wenig jugendfreie Vorstellungen, die mich genauso erschreckten wie dich, falls du etwas davon mitbekommen hättest, meine ich. Vermutlich wärst du mit irgendeiner Nagelfeile auf mich losgegangen oder so.“ Er schaute betont unschuldig drein, aber seine Mundwinkel zuckten unübersehbar. Die Geschichte ihrer standardmäßigen Selbstverteidigungsmaßnahmen hatte also auch ihn erreicht.
Paula rollte in gespielter Verzweiflung mit den Augen, sagte aber vorsichtshalber nichts dazu. Das war auch nicht nötig.
„Ich begann in dieser Nacht ernsthaft an meinem Verstand zu zweifeln: Die Situation war keineswegs romantisch, du in diesem Moment ungefähr so attraktiv wie eine tiefgekühlte Tante Lieselotte, aber in mir kochten trotzdem munter die Hormone. Da wusste ich, dass ich entweder eine Hormonbehandlung brauchte oder ernsthaft in Gefahr stand, mich in dich zu verlieben.“
Damit endete seine Geschichte. Es war eindeutig die seltsamste Liebeserklärung gewesen, die Paula je bekommen hatte und ehrlich gesagt auch die einzige. Jörgs wohldosierte Lügenmärchen zählten nicht.
Sie zeigte sich weit weniger geschockt vom Ende, als der Erzähler befürchtet hatte. Er registrierte dies mit einer gewissen Erleichterung und sah sich in seiner Hoffnung bestätigt. Der Rest des Nachmittags war gerettet und sein Programm stand eigentlich schon fest. Und nicht nur das….
Paula spöttelte ahnungslos: „Du Ärmster, ich sah an dem Morgen wie eine Vogelscheuche aus. Ich bin über mein eigenes Spiegelbild erschrocken.“
„Sehen wir es mal positiv. Schlimmer kann es die nächsten vierzig Jahre vermutlich nicht mehr werden. Und wenn ich mich selbst in so einem Augenblick in dich verlieben kann, brauchst du dir über den Rest eigentlich keine Sorgen mehr zu machen.“ Durch ihre lockere Stimmung mutig geworden, zog er sie noch ein Stückchen näher an sich und küsste sie zärtlich und durchaus überzeugend. Bevor er jedoch überzeugungstechnisch und in aufklärendem Sinne weiter ins Detail gehen konnte, und er schien durchaus gewillt, das war nun deutlich erkennbar, wurden sie durch nahende Stimmen abgelenkt.
Paula war insgeheim dankbar für die Unterbrechung. Daniels Tempo, Freundschaften körperlich konkret anzugehen, überforderte und beunruhigte sie gleichzeitig.
Ihr Partner zeigte sich über die Störung weit weniger erbaut und brummte: „Himmel noch mal. Nicht einmal hier hat man in diesem Kaff seine Ruhe.“
Ihr blieb gerade noch genug Zeit, Kleidung und Unterbekleidung in den Originalzustand zu bringen, als die komplette Familie Zauner vor ihren Augen hinter der nächsten Wegbiegung auftauchte.
„Ja so a Überraschung“, meinte Volker und seine Frau winkte dem im Entstehen begriffenen Liebespaar freudig zu.
Die beiden jüngeren Mädchen sprangen unerschrocken zu Paula rüber und begrüßten sie, während Fritz etwas unbehaglich neben einem Baum stehen blieb. Sein Gewissen war selten rein, was die Schule betraf. Auch Anna, die Älteste und mit Abstand Vernünftigste, zog die Nähe ihrer Eltern vor und wirkte sichtlich verlegen. Sie wagte nicht einmal in ihre Richtung zu schauen.
„Mir dachtn, mir guckn uns mal an, wo im nächstn Herbst die Bäum wegmüssn“, erklärte Volker, während seine Frau ergänzte: „Außerdem is des an netter Spaziergang hier rauf.“
Unter einem netten Familienspaziergang hätte Paula seither etwas anderes als eine halbstündige Klettertour durch unwegsames Gelände verstanden. Aber die Vorstellungen mochten da auseinanderklaffen.
Die Familie zeigte keinerlei Absicht, demnächst wieder zu verschwinden, so dass Daniel den Gedanken an eine Fortführung des Schäferstündchens aufgeben musste und dafür eine verfrühte Heimkehr in Betracht zog.
Zu ihrer Überraschung schloss sich die Familie Zauner sofort dieser Idee an. Volker hatte ohnehin ein paar Dinge mit Daniel zu besprechen und Frau Zauner und ihre Töchter redeten währenddessen munter auf Paula ein.
So erreichten sie im Familiengroßverband den Ort.
Weil Daniel am nächsten Morgen Frühdienst hatte, stand kurz darauf der offizielle Abschied an. Er nahm mit einem Blick auf die zahlreichen Spaziergänger, die sich spontan dazu eingefunden hatten, die Lehrerin in den Arm und drückte ihr vor laufendem Publikum einen Kuss auf die Wange.
„Ich hoffe, bei meinem nächsten Besuch in zwei Wochen etwas weniger neugierige Mitmenschen um uns herum vorzufinden“, flüsterte er abschließend in ihr Ohr und ließ dabei bedeutsam seine Hand über ihren Rücken nach unten wandern. Sie bekam unwillkürlich eine Gänsehaut und