Mädchenname. Ava Lennart
Magen. Er erinnerte sie daran, dass sie in Zürich um vier Uhr immer eine Kleinigkeit gegessen hatte. Sie verließ ihr Zimmer und machte sich auf die Suche nach Virginie.
Julia traf sie und Estelle in der großen Küche im Erdgeschoss. Staunend schaute sich Julia in dem großen Raum um. So in etwa hätte sie sich die Küche einer großen Burganlage vorgestellt. Dieser Eindruck wurde durch einen großen begehbaren Kamin, über dem getrocknete Kräuter hingen, noch verstärkt.
Estelle stand an einem riesigen kupferfarbenen Gasherd, der nur auf den ersten Blick altertümlich wirkte, bei näherem Hinsehen allerdings sämtliche Features aufwies, von denen die moderne Hausfrau träumte. Virginie saß an einem großen antiken Holztisch, der in der Mitte des Raumes stand, und schnitt Gemüse. Diese Szenerie, wie beide Frauen einträchtig das Dîner vorbereiteten und dabei unbefangen miteinander plauderten, hatte etwas so Friedliches und Ursprüngliches, dass Julia unwillkürlich ehrfürchtig innehielt, um das Bild zu bewahren.
Dann kam Estelle freudestrahlend auf sie zu. „Julia, ist alles in Ordnung? Kann ich etwas für Sie tun, ma chère?“
Julia wurde verlegen. „Nein, Estelle, es ist alles gut. Kann ich Ihnen vielleicht etwas helfen?“
Mit einem Anflug von Irritation musterte Estelle sie und sah dann kurz zu Virginie.
Julia schluckte. Sie wollte nichts komplizieren. Sie hob beschwichtigend die Hände. „Natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist. Der Nachmittag war mir nur so lang, und ...“
Da erschien ein mütterliches Strahlen auf Estelles Gesicht. „Oh, ich verstehe. Sie sind einsam“, sagte sie und zog Julia am Ellbogen zum Holztisch, wo sie sie auf eine Bank platzierte. Einsam?
„Nein, das nicht. Nur etwas ... unterbeschäftigt. Und ich vermisse die Arbeit in der Küche. Ich würde mich wirklich freuen, wenn ich Ihnen zur Hand gehen dürfte.“
Die beiden Frauen tauschten erneut einen Blick. Grinsend schob ihr Virginie ein Brettchen und ein Messer hin und wies auf eine Schüssel mit Tomaten, die darauf warteten, entkernt und gewürfelt zu werden.
Freudig machte sich Julia an die Arbeit. Sie liebte es, zu kochen, und genoss nun die vertrauten Bewegungen des Gemüseschnippelns. Kochen war ihre große Leidenschaft.
In den letzten Monaten, bevor sie sich endlich das Ende ihrer Beziehung mit Marcus eingestanden hatte, war die Küche ihre Zuflucht gewesen. Es hatte damit begonnen, dass sie beim Zwiebelschneiden plötzlich nicht mehr hatte aufhören können zu weinen. Marcus steckte mit einem Stirnrunzeln seinen Kopf in die Küche, wobei er ungeduldig mit der Zeitung, die er gerade gelesen hatte, gegen sein Bein schlug. Nachdem er gesehen hatte, dass Julia nur Zwiebeln schälte, verließ er mit tadelnd schnalzender Zunge – wie konnte sie ihn nur stören – die Küche.
Von diesem Moment an kochte Julia in ihrer Freizeit wie eine Besessene. Sämtliche Betty-Bossi-Wunderrezepte kredenzte sie Marcus. Sogar nachts sann sie über Bratenfond kochen und Buttercreme für die phänomenale Schichtentorte schlagen nach. Hauptsache, sie musste nicht über sich selbst nachdenken. Und wie elend und nutzlos sie sich fühlte. Wie Marcus ihr das Gefühl gab, unzulänglich zu sein. Vertrocknete Pflaumen, ha!
Irgendwann hatte sie den Punkt der Ruhe erreicht. Die Entscheidung hatte ihr plötzlich, mitten in der Zubereitung eines wirklich exzellenten Züricher Geschnetzelten, glasklar vor Augen gestanden. Am nächsten Tag hatte sie ihre Koffer gepackt und ihren Job gekündigt. Marcus verstand wahrscheinlich die Welt nicht mehr. Erst hatte ihn Julia wochenlang mit kulinarischen Schmankerln verwöhnt, um ihn dann Knall auf Fall zu verlassen.
Wie sich jetzt bestätigte, war das die einzig richtige Entscheidung gewesen, denn Julia fühlte sich so lebendig und zuversichtlich, wie schon lange nicht mehr.
Nachdem sie etwa eine Viertelstunde einträchtig, aber stumm miteinander gearbeitet hatten, entspannten sich Virginie und Estelle und nahmen ihre Plauderei wieder auf. Dann spitzte Julia die Ohren. Der Name Mathieu war gefallen. Und schon wieder fing Julias Herz seltsamerweise an, schneller zu schlagen. Virginie hackte gerade einen Berg Mandeln und kicherte vor sich hin.
Estelle verdrehte die Augen. Auf Julias fragenden Blick hin erklärte sie mit rollenden Augen: „Ach, die junge Liebe. Virginie hat sich in einen Jungen aus dem Dorf verguckt. Der junge Antoine arbeitet für Mathieu.“ Sie hielt inne. „Haben Sie Mathieu schon kennengelernt?“
„Ja, ist das nicht der Gärtner? Dem bin ich schon begegnet“, antwortete Julia so neutral wie möglich. Weshalb war sie nur so aufgeregt? Hoffentlich merkte ihr Estelle nichts an.
„Der Gärtner?“ Belustigt schaute Estelle Virginie an, die wieder kicherte.
Julia war verwirrt.
„Mathieu ist nicht unser Gärtner. Er ist Landschaftsarchitekt und gestaltet die Gartenanlage des Anwesens neu. Das war ein Wunsch von Monsieur Charles, denn der Garten wurde in den letzten Jahrzehnten stark vernachlässigt. Und für das große Geburtstagsfest im August soll der Garten in neuem Glanz erstrahlen. Dafür ist Mathieu genau der Richtige! Er ist zwar von hier, hat aber in Paris studiert und war sogar im Ausland für ein Praktikum.“ Estelle füllte ein Huhn mit Zitronenscheiben und Kräutern. „Auf jeden Fall ist Virginie aufgeregt, weil ihr Antoine heute hier arbeitet. Ihnen ist doch sicher der Lärm heute Vormittag aufgefallen? Es wurden Steine für neue Gehwege angeliefert.“
Als sie den Blick hob, bemerkte sie, wie Estelle sie nachdenklich musterte. Julia räusperte sich und wischte sich die Hände an einem Küchenpapier sauber.
„Danke, dass ich hier so freundlich aufgenommen wurde. Ich freue mich schon sehr auf das Abendessen. Das wird sicherlich wieder köstlich. Bis später.“ In weniger als einer Minute hatte Julia die Küche verlassen und hörte nur noch Virginies Kichern.
Ein Landschaftsarchitekt also.
Julia wusste selbst nicht, weshalb sie diese Auskunft so beschäftigte. War sie etwa enttäuscht? Eine Affäre mit dem Gärtner hätte schließlich etwas Verruchtes. Vielleicht sogar Vulgäres? Jetzt komm aber mal auf den Teppich!, ermahnte sie sich. Schließlich war sie nur Julia und nicht eine Dame aus Monaco, die das Personal vernaschen wollte. Auf jeden Fall war ein Landschaftsarchitekt weniger geheimnisvoll als ein Gärtner. War der Gärtner nicht auch immer der Mörder?
Sie schmunzelte. Seufzend gestand sie sich ein, dass sie mit ihren Gedanken wohl zu keinem Ergebnis kam. Sie hatte einfach weiche Knie, wenn sie an diesen Mathieu dachte, Gärtner hin oder her.
GÄNSEHAUT
Er war wieder da. Julia spürte ihn, bevor sie ihn sah.
Der Himmel war heute bedeckt, und Julia war wieder um sechs Uhr aufgewacht. Ein Adrenalinstoß war durch ihre Adern gefahren, als sie sich voll Vorfreude den Badeanzug übergezogen hatte. Sie hatte gewusst, er würde kommen.
Als sie seine Anwesenheit jetzt spürte, während sie ihre letzten Bahnen absolvierte, lächelte sie in sich hinein, zufrieden mit ihrem Instinkt. Aber nun war es gar nicht so einfach, ihr Training zu beenden. Am liebsten hätte sie ihn gleich angesehen, wäre gleich zu ihm hingeschwommen, denn schließlich hatte sie genau darauf gewartet. Aber auch wenn sie ihn nicht ansah, spürte sie es wie ein Brennen auf ihrer nassen Haut, wie er jede ihrer Bewegungen im Auge behielt.
Als sie aus dem Becken stieg, hielt er ihr genau wie die ganzen Tage zuvor stumm das Handtuch hin. Sie blinzelte ihn an. Wegen der fehlenden Sonne war sie von einer Gänsehaut überzogen. Dennoch fror Julia nicht, oder sie fühlte es nicht. Sein Blick löste sich nicht von ihrem, als sie das Handtuch entgegennahm und sich damit abtupfte.
Seit Mathieu sie das erste Mal bei ihrem Training beobachtet hatte, spielte sich jeden Morgen dieselbe wortlose Szene ab. Selbst wenn sie sich danach im Laufe eines Tages zufällig auf dem Grundstück über den Weg liefen, nickten sie sich nur zu. Julias Herz schlug jedes Mal so kräftig in ihrem Hals, dass sie zu mehr auch gar nicht imstande war.
Doch heute war es anders: Gerade als Julia in ihre Flipflops schlüpfte