Adlerholz. Irene Dorfner

Adlerholz - Irene Dorfner


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      „Ich kann mir vorstellen, worauf Sie hinaus wollen, Frau Westenhuber: Ist der Fundort auch der Tatort, oder wurde die Leiche an anderer Stelle ins Wasser geworfen und trieb in der Alz, und wenn, dann wie lange…“

      „Ich sehe, wir verstehen uns Herr Fuchs, sehr schön. Also, was meinen Sie?“

      „Ich möchte den Kollegen in der Pathologie nur ungerne vorgreifen…“

      „Raus mit der Sprache. Ich möchte Ihre persönliche Meinung hören, das war doch bestimmt nicht Ihre erste Wasserleiche.“

      „Sicher nicht. Gut, wie Sie möchten: Meiner Meinung nach lag die Leiche grob geschätzt höchstens einen Tag im Wasser und wurde, wenn überhaupt, nicht weit getrieben. Das zeigen schon alleine die Spuren am Körper des Toten. Außerdem ist die Alz momentan sehr seicht, wodurch ein Transport über eine längere Strecke sehr unwahrscheinlich wäre. Ich vermute also, dass der Fundort nicht der Tatort ist, auch nicht die Stelle, an der die Leiche in die Alz geworfen wurde. Wir konnten nicht die kleinste Spur diesbezüglich finden. Ich vermute jedoch, dass die Stelle nicht weit entfernt ist. Die Kollegen suchen das Gebiet flussaufwärts Richtung Garching bereits ab und mit etwas Glück finden wir die Stelle, vielleicht stoßen wir sogar auf den Tatort. Aber bitte: Versprechen kann ich hier nichts, denn das Alzufer ist stellenweise sehr schwer zugänglich und riesengroß. Hinzu kommt, dass sich auch aufgrund des schönen Wetters wieder bereits sehr viele Personen dort einfinden und eventuelle Spuren zerstören könnten,“ er stöhnte, denn er konnte nicht verstehen, wie Menschen Vergnügen am Baden oder am Grillen haben können. Für ihn beides Dinge, die mit vielen Keimen, Bakterien und sonstigen Gefahren verbunden sind.

      „Was wir bislang genau wissen: Der Mann wurde erschossen, die Geschosse müssen separat geprüft werden. Eine Schätzung hierzu kann ich nicht abgeben, da sich die Geschosse noch im Körper des Toten befinden. Allerdings kann ich mit ziemlicher Gewissheit sagen, dass die Schüsse aus einer geringen Distanz abgegeben wurden, schätzungsweise zwei bis maximal vier Meter.“

      „Eine Hinrichtung?“ Hans wurde blass.

      „Ich gebe mich keinen Spekulationen hin, aber die geringe Distanz und dann auch noch die fixierten Arme mit Kabelbinder am Rücken lassen eine solche Annahme durchaus zu. Aber das herauszufinden, ist Ihre Arbeit. Kommen wir zu der Verletzung im Gesicht. Sie wurde dem Opfer mit ziemlicher Sicherheit kurz vor seinem Tod zugefügt. Ich vermute einen heftigen Schlag, entweder mit einem stumpfen Gegenstand oder ein kräftiger Faustschlag. Festlegen möchte ich mich hier nicht, es spricht aber alles für Letzteres. Zur Identität können wir bislang nur Vermutungen anstellen: Circa fünfunddreißig Jahre alt, einen Meter fünfundachtzig groß, schlank, sehr sportlich, kurze, schwarze Haare. Markant sind die vielen Tätowierungen am gesamten Oberkörper und an den Armen. Oberflächliche Fotos wurden gemacht, detailliertere Bilder kommen dann aus München zusammen mit dem Obduktionsbericht.“

      Fuchs reichte die wenigen Bilder reihum und musste erst einmal Luft holen, denn er brachte die Ausführungen klar und deutlich und dazu noch mit sehr hohem Tempo vor, und das alles ohne Notizen. Die Kollegen betrachteten die Fotos.

      „So außergewöhnlich wie noch vor 20 Jahren sind diese Tätowierungen nicht mehr, viele Normalbürger und beinahe jeder Sportler hat welche, das ist ganz modern. Wenn nicht eine ganz markante Arbeit von einem Künstler dabei ist, wird die Zuordnung zu einem unbescholtenen Bürger allein mit diesen Tattoos nicht leicht,“ sagte Leo, als er sich die Fotos ansah.

      „Das mit diesen Körperbildern greift um sich,“ stöhnte Krohmer, der sich bereits mehrfach mit dem Problem befassen musste. „Selbst bei der Polizei sind Tätowierungen inzwischen erlaubt, soweit sie nicht sichtbar sind und durch Kleidung verdeckt werden können.“ Für Krohmer eine absolut überflüssige Regelung, denn ihm war es völlig egal, ob Polizisten Tätowierungen hatten oder nicht. Für ihn zählte nur die Arbeitsleistung. Über Äußerlichkeiten in der Art hatte er sich noch nie Gedanken gemacht, für ihn war das reine Privatsache.

      „Was sagt die Vermisstenstelle?“

      „Bislang negativ, keine Übereinstimmung. Allerdings hatten wir auch bisher nur eine vage Beschreibung, die auf sehr viele Menschen zutrifft. Da der Kollege Fuchs meinte, dass das Opfer aus Südeuropa stammen könnte, haben wir Interpol eingeschaltet. Das mit den Tätowierungen hätten wir vorher wissen müssen, das hätte die Suche massiv eingeschränkt.“ Hans Hiebler war sauer, dass er diese wichtige Information nicht umgehend auf den Tisch bekam und warf Fuchs einen vorwurfsvollen Blick zu. Waltraud Westenhuber bemerkte nicht nur den Blick, sondern auch die Antipathie zwischen den beiden. Sie musste einschreiten, denn so eine Schlamperei konnte sie nicht zulassen.

      „In Zukunft werden solche Details umgehend an die Kollegen weitergegeben, verstanden?“

      Fuchs nickte und senkte den Kopf. Ja, die Information diesbezüglich hatte er zurückgehalten. Er wollte mit seiner Information warten, bis er sie persönlich in der Besprechung präsentieren konnte, denn sonst hatte er bisher nicht viel vorzuweisen.

      „Aber ich habe nicht gesagt, dass das Opfer aus Südeuropa stammen könnte. Meine präzise Aussage war: südländischer Typ - das möchte ich ausdrücklich klarstellen,“ sagte er bestimmt.

      „Wie dem auch sei. Sobald der Bericht aus München hier ist, treffen wir uns wieder.“

      Krohmer hatte genug gehört, auf ihn wartete noch viel Arbeit.

      Frau Westenhuber war aufgestanden und ging direkt in die Kantine. Nach der überstürzten Abfahrt aus München, der Fundortbegehung und dem Joggen war sie völlig ausgehungert. Zu ihrer Enttäuschung musste sie feststellen, dass vom Mittagessen nicht mehr viel übrig war und sie sich mit den Resten begnügen musste. Sie wählte Leberkäse mit Kartoffelsalat und eine Apfelschorle, die sie in einem Zug austrank. Sie aß mit großem Appetit und gönnte sich dann noch zwei Stück Käsekuchen, die sie in die Hand nahm und davon abbiss, was von den wenigen anwesenden Kollegen amüsiert zur Kenntnis genommen wurde. Waltraud Westenhuber war zwar sehr sportlich, pfiff aber auf gesunde Ernährung und moderne Kleidung, was ihr schon immer Einiges an Hohn und Spott einbrachte. Dazu sprach sie bayrischen Dialekt und bemühte sich auch in Gesprächen nicht, Hochdeutsch zu sprechen. Sie war stolz auf ihre Herkunft und dachte nicht daran, sich auf irgendeine Art und Weise zu verbiegen. Sie wusste, dass sie intelligent war, prahlte aber nie damit. Im Gegenteil! Sie liebte es, sich dumm zu stellen und andere auflaufen zu lassen. Sie hasste nichts mehr als Prahlerei und Augenwischerei.

      Sie dachte über den Fall nach, während sie einen Kaffee trank. Sie hatten die Leiche eines tätowierten Mannes aus der Alz gezogen, der durch zwei Schüsse in den Rücken getötet wurde – mit den fixierten Händen auf dem Rücken eine regelrechte Hinrichtung, darin war sie mit dem Kollegen Hiebler einig. In einer Großstadt hätte sie sofort auf ein Verbrechen im Milieu getippt. Aber hier in der Provinz? Ausgeschlossen! Oder lag sie vollkommen falsch und es gab hier auch so etwas Ähnliches? Sie musste sich dringend an die Arbeit machen und das herausfinden. Vor allem aber musste sie sich über diesen Fluss namens Alz informieren, von dem sie noch nie gehört hatte.

      „Gibt es hier in der Gegend ein kriminelles Milieu?“, fragte sie mit vollem Mund, als sie in das Büro eintrat. „Sie wissen schon, was ich meine.“

      „Hier bei uns auf dem Land? Nein, auf keinen Fall,“ sagte Werner Grössert und schüttelte energisch den Kopf. Das war doch absurd.

      „Bist du dir da sicher? Ich denke ja, dass es nichts gibt, was es nicht gibt. Und natürlich können auch hier bei uns kriminelle Banden Fuß gefasst haben, ohne dass wir bisher davon Wind bekommen haben.“ Hans fand den Gedanken äußerst interessant.

      „Jetzt spinn dich aus!“, rief Grössert. „Bei uns ist die Welt noch in Ordnung. Nein, so etwas wie eine organisierte Kriminalität gibt es hier nicht.“

      „Warum denn nicht? Denkst du wirklich so blauäugig? Wir sind doch längst durch Internet, Zuwanderung und uneingeschränkte Reisemöglichkeit mit dem Rest der Welt nahtlos verknüpft. Und Grenzkontrollen gibt es so gut wie keine mehr. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass in jedem Menschen kriminelle Energie, Gier, Machtbesessenheit und so weiter schlummert, auch


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