Adlerholz. Irene Dorfner
zwar nicht schlecht. Trotzdem bleibe ich dabei: Bei uns hier auf dem Land ist die Welt noch in Ordnung.“
„Interessant,“ kommentierte Frau Westenhuber die Diskussion, „wie erklärt sich dann die Art und Weise, wie das Opfer getötet wurde? Ich sehe das wie Hiebler: als Hinrichtung. Wir sollten trotzdem an dem Gedanken dranbleiben. Herr Hiebler, forschen Sie doch bitte in dieser Richtung nach. Habe ich inzwischen etwas verpasst? Nein? Na dann an die Arbeit, der Bericht von der Pathologie müsste heute Abend hier sein. Ist das dort mein Schreibtisch?“
Ohne auf eine Antwort zu warten setzte sie sich an den einzig freien Schreibtisch. Sie schaltete den Computer auf ihrem Schreibtisch nicht ein, sondern legte die Tastatur zur Seite und zog ihren eigenen Laptop aus der Tasche. Sie arbeitete lieber mit ihren eigenen Utensilien, was auch Stifte, Block und Telefon mit einschloss. Sie informierte sich zunächst über diesen Fluss Namens Alz. Die Alz entspringt also bei Seebruck aus dem Chiemsee und hat eine Länge von 63 km – nicht wirklich lang. Gut, dann führt der Fluss durch oder nahe an Ortschaften vorbei: Altenmarkt, Trostberg, Tacherting, Garching, Burgkirchen (dort hatten sie die Leiche gefunden), Emmerting und mündet dann bei Marktl in den Inn. Sie öffnete eine Karte auf ihrem Laptop und sah sich das Ganze in Ruhe an. Wenn der Kollege Fuchs Recht hat und die Leiche nicht lange im Wasser lag und auch nicht weit getrieben sein konnte, dann kann man die ersten Ortschaften getrost ausklammern.
So weit – so gut. Sie kam hier nicht weiter und musste auf die Berichte der Pathologie und der Spurensicherung warten. Bei Letzterem war sie sich sicher, dass Fuchs seine Arbeit gründlich machen würde, sie kannte solche Typen sehr gut: übereifrig, pedantisch, sehr korrekt und stur. Sie könnte darauf wetten, dass Fuchs die Stelle, an der die Leiche ins Wasser geworfen wurde, noch bis heute Abend fand – wenn nicht sogar den Tatort.
Der Bericht der Pathologie traf erst am späten Abend ein. Rudolf Krohmer und Werner Grössert waren längst zuhause, Hans Hiebler fuhr direkt vom Präsidium zu einer Verabredung, die er nicht verschieben wollte – die neue Kollegin konnte er immer noch nicht leiden und würde sich für sie nicht einschränken. Nach dem letzten großen Fall hatte er eine riesige, verantwortungsvolle Aufgabe übernommen, der er sich mit vollem Einsatz widmete, wodurch auch sein Privatleben erheblich litt: Er musste der Nichte von Frau Gutbrod, Karin, Fahrstunden erteilen. Er war ihr damals gefolgt und war geschockt von deren rücksichtslosem und kriminellem Fahrstil – so konnte er sie auf keinen Fall mit gutem Gewissen auf die Straßen lassen. Nach einem heftigen Vortrag hatte er Karin davon überzeugt, dass sie dringend Nachhilfe brauchte, und sie hatte sich schließlich dazu überreden lassen. Karin war von einfacher Natur: Nur an sich selbst und einem potentiellen Ehemann interessiert. Außerdem legte sie als Friseurin sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Hans hatte sehr lange dafür gebraucht, Karin davon zu überzeugen, beim Fahren keine Highheels zu tragen. Und noch länger hatte es gebraucht, um ihr klarzumachen, dass der Rückspiegel nicht fürs Schminken da war, sondern um den rückwärtigen Verkehr im Auge zu behalten.
Frau Gutbrod hatte es sich seit Jahren zur Aufgabe gemacht, ihrer Nichte, die inzwischen über 40 war, bei der Suche nach einem Ehemann zu helfen, was ihre Umgebung fürchterlich nervte. Bei jeder Gelegenheit bot Frau Gutbrod ihre Nichte Karin an wie sauer Bier; die beiden gab es quasi nur noch im Doppelpack. Hans Hiebler erteilte der Frau geduldig seit Wochen regelmäßig Fahrstunden, was wahrlich kein Vergnügen war, denn immer wieder brachte die Frau ihn zur Weißglut. Aber was sich Hans vornahm, das zog er auch durch. Langsam aber sicher wurden seine Bemühungen belohnt, denn in den letzten Tagen war Karins Fahrstil deutlich besser geworden. Sie fuhr nun umsichtiger und hörte auf ihn. Zwar kannte Karin die Verkehrszeichen und deren Bedeutung, aber jetzt fing sie sogar an, sich auch daran zu halten. Halleluja!
Leo hatte an diesem Abend nichts vor und blieb länger im Büro. Er hasste die ruhigen Abende, die er allein vor dem Fernsehgerät verbringen musste. Seit seine Viktoria auf Reha war und sie ihm das Versprechen abnahm, sie nicht zu besuchen, langweilte er sich beinahe zu Tode. Deshalb kam ihm der neue Fall wie gerufen.
„Nur noch wir beide, Herr Schwartz. Bewegen Sie Ihren Hintern hier rüber, dann können wir uns den Bericht gemeinsam ansehen.“
Leo nahm frischen Kaffee mit, den Frau Westenhuber dankend annahm. Er hatte beobachtet, wie die Frau beinahe literweise Kaffee in sich hineinschüttete und dabei jede Menge Schokoriegel aß - gesund war das sicher nicht.
„Wir haben es also mit einer russischen 9mm Makarow zu tun. Na super, das ist eine der weitverbreitetsten Waffen.“
„Wird die heute immer noch hergestellt?“
„Ganz sicher. Ich war vor gut 3 Jahren bei einem Vortrag in Russland,“ erzählte Frau Westenhuber mit glänzenden Augen. „Ich habe dort einen russischen Oberst kennengelernt, so einer mit viel Lametta auf der Brust, ein echt aufgeblasener Mensch der sich für sehr wichtig hielt. Von ihm habe ich erfahren, dass diese Waffe auch heute von den dortigen Streitkräften immer noch gerne benutzt wird. So wie in vielen anderen Ländern auch noch. Das Nachfolgemodell ist scheinbar nicht sehr beliebt, obwohl die Waffenlobby die Makarow sehr gerne ersetzen würde.“
„Das glaube ich gerne,“ sagte Leo, während er sich die Detailfotos der Tätowierungen genauer ansah. „Ich kann mir vorstellen, dass das ein Riesengeschäft ist.“
„Ertrunken ist unser Opfer auf jeden Fall nicht. Eines der beiden Geschosse traf ihn tödlich. Hier steht, dass er sofort tot gewesen sein muss. Ich finde es immer tröstlich, wenn jemand nicht unnötig leiden musste.“
Leo war nicht ganz ihrer Meinung, denn für ihn gab es Ausnahmen: Wenn es sich um besonders grausame Verbrecher handelte, die ihre Opfer mitunter schrecklich zurichteten oder extrem leiden ließen. Aber vor allem bei Fällen, in denen es sich bei den Opfern um Kinder handelte. Als Polizist würde er das jedoch niemals zugeben und stimmte Frau Westenhuber schließlich zu.
„Hier steht als Anmerkung, dass noch Labortests anstehen, die Ergebnisse stehen erst morgen zur Verfügung – um was es dabei wohl geht?“
„Keine Ahnung. Aber wenn die Kollegen Tests durchführen, dann muss es wichtig sein.“
Leo sah sich die Fotos nochmals genauer an. Er kannte sich mit Tattoos nicht aus, aber einige davon waren wirklich sehr schön, obwohl er kein Fan von solchen Dingen war. Für ihn würde ein Tattoo oder gar eines dieser fürchterlichen Piercings niemals in Frage kommen, denn schon der Gedanke an Nadeln und den damit verbundenen Schmerzen bereitete ihm eine Gänsehaut. Für ihn unvorstellbar, wie man sich so etwas freiwillig antun kann.
„Ist bei der Fahndung schon irgendetwas rausgekommen?“, riss ihn Frau Westenhuber aus seinen Gedanken.
„Nein. Aber ich werde die Fahndung durch die Fotos der Pathologie erweitern.“
„Tun Sie das. Gibt es noch Kaffee?“
Es klopfte zaghaft an der Tür und sofort sah Leo auf seine Uhr: 21.38 Uhr, ziemlich spät für Besuch.
„Herr Fuchs? Sagen Sie mir nicht, dass Sie immer noch arbeiten,“ empfing ihn Frau Westenhuber erfreut.
„Selbstverständlich, wie Sie ja auch. Ich wollte Ihnen mitteilen, dass wir die fragliche Stelle gefunden haben. Und zwar die Stelle, an der das Opfer in die Alz geschleift wurde. Den Tatort haben wir auch. Die Spuren sind eindeutig,“ rief er freudestrahlend und stolz aus. Er breitete auf Frau Westenhubers Schreibtisch die entsprechenden Fotos aus. „Hier sehen Sie den Tatort unweit des Fundortes, nur etwa 150 m flussaufwärts entfernt. Eine Geschosshülse konnten wir sicherstellen, sie war im Unterholz – die andere ist verschwunden. Sehen Sie hier auf dem Foto die eindeutigen Schleifspuren bis hier zum Ufer der Alz?“
„Ja, klar und deutlich.“
„Ich bin mir sicher, dass wir Abriebspuren auf Steinen den Schuhen des Opfers zuordnen können, die entsprechenden Ergebnisse sind morgen fertig. Blutspuren konnten wir leider noch nicht finden, es ist einfach schon zu dunkel. Gleich morgen früh nach der Besprechung machen wir uns auf die Suche. Die Stelle wurde gesichert und abgeriegelt. Ihre Zustimmung vorausgesetzt, habe ich dort zur Sicherheit einen Polizisten postieren lassen.“
Friedrich Fuchs platzte beinahe vor Stolz.