Hotel Amerika. Maria Leitner
wohlgelaunt. Blitzblank sieht er aus in seiner Pagenuniform.
Salvatore geht zu den Schuhputzern, mit spitzem Mund vor sich hinpfeifend, und legt den Fuß auf eine Messingplatte. Er stemmt die linke Hand gegen seine schlanke Hüfte, während er mit der rechten Geldstücke in die Luft wirft, die er mit großer Geschicklichkeit immer wieder auffängt. „Er spielt nur Theater", flüstert Shirley ihrer Kollegin zu. „Er ärgert sich, dass ich mir nichts mehr aus ihm mache." Ingrid kann sich nicht enthalten, Salvatore einen bewundernden Blick zuzuwerfen.
„Willst du wirklich fortgehen und auch ihn ganz aufgeben?" Ingrid weiß, dass Salvatore früher Shirleys Freund gewesen ist.
Shirley macht eine wegwerfende Bewegung. „Ich kann mir ganz andere aussuchen, als diesen kleinen Zuckerbäckersohn aus dem italienischen Viertel. Aber du kannst ihn ja trösten, er gefällt dir, ich habe das schon bemerkt."
Ingrid spürt ein Erröten. Diese Shirley ist schrecklich; man weiß nie, ob sie das, was sie sagt, auch ernst meint. Aber sie will hoch hinaus, das ist sicher. Alle im Hotel sagen es von ihr.
Zum zweiten Mal ertönt die Glocke in allen Abteilungen des Personals. In der Luft schwirren Nummern, man hört das Knarren der Kontrolluhren, das Klirren der Schlüssel. Im Wäscheraum beginnen elektrische Nähmaschinen zu surren, die Hausmänner sind schon dabei, die Wasche für die dreißig Stockwerke in große Rollwagen zu verstauen, die Stubenmädchen binden ihre Schlüssel um die Taille, die Haushälterinnen sehen die Listen mit den Zimmernummern durch. Überall werden Befehle erteilt, das tätige Leben hat schon voll begonnen.
„Wir kommen zu spät zum Frühstück." Ingrid blickt in den Speisesaal des weiblichen Personals unterster Stufe, der gleichzeitig auch als Küche und Abwaschraum dient. Er ist von fast unübersichtlicher Ausdehnung. Eingezwängt zwischen Wolkenkratzern, nahe dem Keller, liegt er wie in einem endlos tiefen Schacht und bleibt immer dunkel und luftlos. Man müsste sich platt auf den Boden legen, um ein Stückchen Himmel zu erspähen. Es riecht hier immer unangenehm nach ranzigem Fett und Spülwasser. Im Saal ist schon allgemeiner Aufbruch; die langen, lehnenlosen, nur gehobelten Bänke sind leer, die Holztische abgeräumt. Es stehen nur noch einige Gruppen zusammen. „Ich schenke mein Frühstück der Direktion", sagt Shirley „Na, ich brauche ja nicht mehr lange diesen Fraß in mich zu zwingen, ich habe ja auch heute nacht gut gegessen. Aber du, hast du Hunger?"
Eigentlich nein, ich mache mir nichts daraus, dass ich kein Frühstück habe. Nachts bin ich immer hungrig und kann kaum einschlafen. Aber morgens, wenn ich erwache, dann ist es weg, das Hungergefühl. Ich denke dann gar nicht mehr gern ans Essen."
Es hat schon zum dritten Mal geläutet. Der Raum vor den für die Angestellten bestimmten Aufzügen ist auch schon entvölkert. Er sieht dunkel und ungepflegt aus. Die Aufzüge funktionieren meist nicht einwandfrei. Jetzt sind die Klingeln nicht in Ordnung und man muss schreien, um sich den Aufzugführern bemerkbar zu machen. „Hinauf!" ruft Ingrid.
„Hinab!" schreit Shirley, die in die Wäscherei hinunterfahren muss.Die Verbindungstüren, die sonst sorgfältig abgeschlossen sind und die zu dem eigentlichen, für die Hotelgäste bestimmten Teil dieses Stockwerkes führen, sind weit aufgeschlagen, und man kann den unteren Ballsaal übersehen, einen prächtigen, durch sinnreich angebrachte Spiegel grenzenlos wirkenden marmornen Saal.Shirley erinnert sich, dass der im Traum gesehene Saal Ähnlichkeit mit diesem hat. Ingrid starrt neugierig hinein. „Was sie hier wohl feiern werden?"Es werden jetzt prächtige Bäume hineingetragen, exotische, üppige Bäume, überschüttet mit roten Blüten, lilafarbene Sträucher, die betäubend duften, Blumen mit merkwürdigen gelben Dolden. Man sieht, die Vorbereitungen zu der Ausschmückung des Saales haben erst begonnen, aber schon jetzt hat er Ähnlichkeit mit einem unwirklichen, traumhaften Feengarten.
Shirley lacht. Sie könnte der kleinen Ingrid nähere Auskunft geben, wenn sie nur wollte; sie weiß mehr als die anderen. Aber jetzt sagt sie nur:
„Man wird hier eine große Hochzeit feiern. Siehst du, so heiraten die reichen Mädchen. Sie ist die Tochter eines Millionärs, ich weiß einiges über sie, — na, aber ich schweige." Shirley lacht über die erstaunten Augen Ingrids. Diese beginnt wieder zu rufen: „Hinauf!" und Shirley schreit „Hinab!"
Und in dem Fahrstuhl, der in die Wäscherei fährt, der langsam hinabsinkt in die Tiefe, zu den erstickenden Dämpfen, denkt sie: es ist heute zum letzten Mal, zum letzten Mal hinab, — morgen schon wird sie steigen...
Zweites Kapitel
In der Frühstücksbar des Hotels Amerika sitzt an dem braun polierten Holztisch, der in einem Halbkreis durch den ganzen Raum läuft, Herr Fish, ein junger Mann mit gepflegtem Äußern, und löffelt seine Grapefruit. Die anderen hohen, runden Stühle sind noch leer. Herr Fish ist der erste Gast und genießt demzufolge aufmerksamste Bedienung.
Der Kellner stellt ihm jetzt mit eleganter Handbewegung Haferbrei mit Sahne auf den Tisch und bleibt dann in angemessener Entfernung vor ihm stehen. Herr Fish ist leutselig und mitteilsam. „Ein feiner Morgen heute, ein schöner Tag, ganz entschieden." Er reibt sich die Hände.
Dann entfaltet er die Zeitung und beginnt, die Börsenmitteilungen zu studieren. Während des Lesens redet er fortwährend auf den Kellner ein: „Millionen, wohin man blickt, Milliarden, und was alles hinter diesen Milliarden steckt! In Brasilien sprießen Gummiwälder, echt amerikanische, mein Lieber. Ja, man wird England ein Schnippchen schlagen, Amerika, das mächtigste Land der Welt. Hier sehen Sie:,Wall Street finanziert Kanalisationsarbeiten im Sudan', ,Hungersnot in China' soll finanziell ausgebeutet werden. ,Rationalisierung in Deutschland befestigt das dort angelegte amerikanische Kapital'. Man muss Börsenkurse lesen können, mein Lieber, die sind interessanter als der fantastischste Roman."
„Hehe", kichert diskret hinter der hochgehobenen Serviette der Kellner. Er findet den Gast reichlich merkwürdig. Man liest Börsenkurse, spricht aber nicht soviel. Der Gast redet immer weiter.
„Man muss nur schlau sein, dann kann man auch seinen Teil aus dem Trüben fischen."
Der Kellner, der seinen Spitznamen „der schöne Alex" gerne hört, beginnt aufzuhorchen. Aus dem Trüben fischen, — hm, das lässt sich hören. Man kann nie wissen, ob man nicht auch einmal brauchbare Tipps bekommt, obgleich es bekannt ist, dass die Kleinen immer über den Kamm geschoren werden. Man kann nie vorsichtig genug sein. Der Kerl ist vielleicht ein Agent, der gern Aktien loswerden möchte. Von meinen sauer verdienten Dollars bekommst du nichts, — denkt der „schöne Alex" und geht in die Küche, um dem gesprächigen Gast seine verlorenen Eier auf Toast und den Kaffee zu bringen. Herr Fish ist anscheinend noch mit seinen hochfliegenden Gedanken beschäftigt. „Das Ganze durchschauen, das ist alles! Das Chaos analysieren, dann findet sich auch ein Weg, der richtige Weg für den eigenen Gebrauch und zum eigenen Nutzen." Der „schöne Alex" denkt wegwerfend: Man muss nur wissen, was man will, das ist die Hauptsache, man muss ein bestimmtes Ziel haben. Das hat er auch. Er will eine Flüsterkneipe in der 81. Straße New-York-Ost, das ist sein Traum. Ja, er kennt die 81. Straße im Osten besser als seine Westentasche. Er hat eigentlich eine schöne Karriere gemacht: Kellner sein in dem feinsten Hotel der Stadt ist keine Kleinigkeit. Und trotzdem spürt er Heimweh, wenn er an die alten Zeiten denkt, obgleich man ihm übel mitgespielt hat. Aber er wird Rache nehmen. Er sieht sich wieder in der „Bar Lohengreen" (wirklich mit zwei „ee" geschrieben). Freilich, da stellte er mehr vor als ein Kellner. Er war die rechte Hand der Besitzerin, der Witwe Lohengreen, — ja, mehr als die rechte Hand: er war die große Liebe der Witwe und der „schöne Alex" sah sich schon als Besitzer, als „Lohengreen" selbst, enthoben dem harten Kampf der Abhängigen.
Herr Fish hängt gleichfalls seinen eigenen Gedanken nach und trinkt den Kaffee in ganz kleinen Schlucken. Der schöne Alex" durchlebt wieder einmal die demütigenden Minuten seines Sturzes. Die Witwe Lohengreen überraschte ihn bei einem Vergnügen mit einer kleinen hübschen Kellnerin. Statt einzusehen, dass er, der „schöne Alex", ein Mann sei, den man nicht mit gewöhnlichem Maße messen könne, gab sie ihm noch am selben Abend seinen Lohn mit den dürren Worten: „Morgen brauchen Sie nicht mehr zu kommen." Das ihm, dem „schönen Alex"! Wenn er an die Flüsterkneipe denkt, die er einmal in der 81.Straße