Die verborgenen Geheimnisse. Marc Lindner
ist mit meiner Schwester? Was ist mit Elisabeth?“
„Ich habe sie nirgends gesehen. Aber ich habe auch nur nach dir gesucht.“ Wilbolt dachte nach. „Aber außer deinen Eltern schien keiner vergiftet worden zu sein.“
Wilbolt merkte, dass das wenig beruhigend war.
„Wahrscheinlich hat auch jemand sie versteckt. So wie ich dich.“
Ismar murmelte unverständlich.
Als Ismar am folgenden Morgen in Wilbolts Haus aufwachte, hatte er das Gefühl, kein Auge zugemacht zu haben. Dennoch war er hellwach und wollte unbedingt in die Stadt. Doch Wilbolt ließ es nicht zu, und so blieb Ismar bei Ell und ihrer Mutter zurück, während Wilbolt in aller Früh in die Stadt ging. Er würde versuchen, zu Ismars Hauslehrer zu gelangen und sollte er daran gehindert werden, sollte er sich an Caspar wenden, weil dieser durchgelassen würde.
Obwohl Wilbolt bereits am frühen Mittag zurück kehrte, wurden es lange Stunden für Ismar. Das erste Mal wollte er sich die Zeit nicht durch Arbeit vertreiben und durch nichts was sich Ell oder ihre Mutter einfallen ließen, war er davon abzubringen, beim Fenster stehen zu bleiben.
„Er kommt“, rief er plötzlich. Obgleich er sich vorgenommen hatte, Wilbolt entgegen zu laufen, sobald er diesen sah, blieb Ismar stehen und wandte seinen Blick nicht mehr von Wilbolt, bis dass dieser in der Tür erschien. Ell und ihre Mutter wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten und stellten sich hinter Ismar.
Wilbolt blickte die Drei an und wusste nicht, wie er es sagen sollte. Unterwegs hatte er einige Varianten ausprobiert, doch nun wollte ihm keine mehr einfallen. Jeder der Wilbolt kannte, wusste, dass er kein Mann der Worte war.
„Deine Eltern sind beide tot. Aber deine Schwester lebt und sie ist in Sicherheit“, sagte Wilbolt steif.
Ismar blieb reglos stehen. Wut und Hilfslosigkeit lähmten ihn. Obwohl er versucht hatte, sich keine Hoffnung zu machen, traf ihn der Schlag ein zweites Mal.
Ell griff vorsichtig noch seiner Hand und er ließ es zu.
„Dein Hauslehrer bat mich, dir dies zu geben.“ Wilbolt nahm einen Brief aus seiner Tasche und reichte ihn Ismar. „Er bat mich, dass du noch zwei Tage bei uns bleibst. Er sorgt sich um deine Sicherheit.“ Wilbolt hielt kurz inne. „Aber das wird er dir wohl auch geschrieben haben.“
Ismar wollte aufbegehren, besann sich dann aber anders und öffnete den Brief. Zahlreiche Strafen hatten es ihm abgewöhnt zu schnell zu antworten.
Er erkannte gleich Wigandus' Schrift, auch wenn dieser diesmal sichtlich in Hast geschrieben hatte. Dennoch war der Brief ungewöhnlich lang. Er bestätigte ihm was er bereits von Wilbolt wusste. Obendrein versuchte er ihn zu beruhigen und bat ihn vernünftig zu sein. Wigandus würde versuchen beim Bischof Schutz für ihn und seine Schwester zu erwirken. Der Sitz des Stadthalters würde neu vergeben werden und er wäre der Einzige, der später einen Anspruch äußern dürfte, aber noch war er zu jung.
Er lobte gar Wilbolt für dessen besonnenes Handeln und schwor Ismar ein, ihm zu vertrauen.
„Es gab einen Verräter, der deinem Vater nah stehen musste, sonst hätte das so nicht geschehen können“, schrieb Wigandus. „Auch ich werde bald die Stadt verlassen und einige Andere auch. Gleichwohl wer von dieser Tat seinen Nutzen zieht, die Stadt wird nicht mehr die Gleiche sein“, hieß es einige Zeilen später.
Ismar überflog den Brief erst hastig, dann noch einmal langsam. Keiner sprach ein Wort. Ismars Hände zitterten und Tränen liefen ihm die Wange hinunter. Er wusste was das bedeuten würde, auch er musste die Stadt verlassen. Schlimm genug, dass seine Eltern tot waren, aber nun verlor er auch noch seine Heimat, alles was ihm vertraut war.
„Wigandus wollte, dass ich dir noch etwas sage, das er nicht niederschreiben wollte“, begann Wilbolt als Ismar seinen Kopf hob. „Er möchte dich nochmal sehen bevor er geht.“
„Kann ich jetzt zu ihm?“ Ismar hielt auf die Tür zu.
„Nein, Wigandus hat kurz nach mir die Stadt verlassen. Er hatte bereits gepackt. Er hat mir gesagt, wo ich ihn in drei Tagen finden werde.“
„Ich muss aber etwas tun. Irgendwas!“, schrie Ismar hilflos.
Ells Mutter eilte zu ihm und nahm ihn in den Arm.
„Junge“, setzte Wilbolt an, doch dann merkte er, dass ihm die Worte fehlten.
„Dein Vater war ein gerechter Herr. Wir werden ihn alle vermissen“, sagte er schließlich aus tiefster Überzeugung.
„Wohl wahr“, bestätigte seine Frau. „Du kannst auf ewig stolz auf ihn sein!“
Drei Tage später brachen Wilbolt und Ismar zum Treffpunkt auf. Ismar war völlig erschöpft. Wilbolt hatte versucht ihn mit Arbeit abzulenken und Ismar hatte geschuftet wie ein Berserker.
Der Junge tat Wilbolt leid und er wurde sich aufs Neue bewusst, wie oft er ihm Unrecht getan hatte. Weder sein Vater noch er hatten diesen Verlust verdient, aber vielleicht musste dies das Schicksal all derer sein, die gutherzig waren, schloss Wilbolt wehmütig. Vielleicht war das Gottes Willen um die Menschen zu bestrafen. Wilbolt machte sich Sorgen um die Zukunft seiner Familie. Er hatte zuviel Schreckliches von Bekannten und Verwandten gehört, die andere Lehnsherren hatten.
Wilbolt ging mit Ismar zur alten Eiche. Das war ein allgemein bekannter Treffpunkt. Die alte Eiche war so windverdreht und verknotet, dass keiner ihr Holz wollte. Sie lag nahe der Weggabelung, die von der Stadt wegführte. Für viele galt der Baum gar als unantastbar. Bereits Wilbolts Vater hatte ihm als kleiner Junge erklärt, dass der Baum heilig war. Viele glaubten in den Knoten Gesichter zu erkennen. Wilbolt zählte nicht zu denen, genauso wenig kam er hierher zum Beten, wenn er ein persönliches Anliegen hatte. Für ihn stand fest, dass man zum Beten in die Kirche ging und dass das hauptsächlich die Aufgabe der Pastoren und Mönche war. Abgesehen vom Tischgebet sagte er meist nur Amen, wenn der Pastor sprach, aus Angst, etwas Falsches zu sagen, was Gottes Zorn auf ihn lenkte. Ansonsten wurde er nicht müde sich zu bekreuzigen, wenn ihm etwas unheimlich war.
Als die Beiden ankamen, hatten sie eine knappe Stunde Fußweg hinter sich. Dennoch waren sie alleine. Wilbolt hatte sich entgegen seiner Art von Ismars Ungeduld anstecken lassen und war früher als verabredet losgegangen.
Allzu lange mussten sie aber nicht warten. Auch Wigandus kam weit vor Mittag. Dabei hatten sie ihn beinahe nicht erkannt. Vorsichtshalber waren die Zwei in den Wald getreten, um nicht für jedermann sichtbar zu sein. Dabei wusste Wilbolt nicht, ob die Straße an diesem Tag besonders viel genutzt wurde, oder ob er sich das nur einbildete. Wigandus kam aus der Stadt, dabei hätte Wilbolt ein Huhn darauf verwettet, dass er aus einer der beiden anderen Richtungen kommen würde.
Erst als der Reiter an der Eiche vom Pferd stieg und sich suchend umblickte, erkannte Ismar seinen Lehrer. Er sah ganz anders aus als üblich. Dabei fiel Ismar auf, dass er ihn nie in Reisekleidung gesehen hatte und erst recht nicht auf einem Pferd.
„Lehrer Wigandus“, gab sich Ismar zu erkennen. Obwohl er seinen Lehrer mochte, hatte sich Ismar nie so gefreut ihn wieder zu sehen.
„Pscht“, zischte Wigandus gleich seine Erleichterung heraus. „Wir sollten kein Aufsehen erregen.“
Wilbolt trat hinter Ismar aus dem Wald hervor.
„Danke Wilbolt, das werde ich dir nie vergessen“, begrüßte Wigandus Wilbolt, der ihn um über eine Kopfhöhe überragte.
„Gern geschehen“, brummte Wilbolt verlegen.
„Wir sollten gleich weiter“, wandte sich Wigandus gleich an Ismar und machte deutlich wie nervös er war.
Ismar wusste nicht recht, wie er sich von Wilbolt verabschieden sollte. Verlegen reichte er ihm die Hand. „Danke.“ Seine Stimme klang brüchig.
Wilbolt war auch nicht geübt darin, sich zu verabschieden. Nochmals wurde ihm bewusst, dass sich nun vieles ändern würde. Er hätte niemals gedacht einmal nicht froh zu sein, wenn Ismar ihn nicht mehr ärgern könnte.