Tod einer Kassenpatientin. Rainer Bartelt

Tod einer Kassenpatientin - Rainer Bartelt


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Erst stirbt die Gesundheit, dann die Würde, dann der Mensch; die Erinnerung stirbt nie.

       Dieses Buch ist gewidmet:

       meiner Mutter Gerda Erika Auguste Bartelt, geborene Kühl

       Frau Anja Rowarth* vom MDK, deren besonderes Engagement als Gutachterin dafür gesorgt hat, dass meine Mutter bereits in der Pflegestufe 1 verstarb

       Herrn Sascha Torwald* von der juristischen Stabsstelle der Klinik, dessen Kenntnisse von der menschlichen Natur nicht ausreichten, um zu erkennen, dass auch der Sterbefall ein Notfall ist

      *Namen geändert

      Hundstage

      „Herr Doktor, der Simulant auf Zimmer 7 ist heute Nacht gestorben.“ „Na sowas, jetzt übertreibt er aber wirklich!“

       Die Luft steht still, draußen und im Haus. Das Thermometer zeigt Temperaturen über 30 Grad im Schatten an. Nur im Freibad gibt es noch Hoffnung auf Abkühlung.

      Wenn ich an einem solchen Tag an meine Mutter zurückdenke, geboren 1920 und aufgewachsen als Gerda Kühl im damals deutschen, heute friedensbedingt zu Polen gehörenden Teil Pommerns, dann bin ich fast froh, dass ihr die mörderische Hitze dieses nicht enden wollenden Sommertags erspart bleibt. Vor Jahren, als es wochenlang schon einmal so heiß war, dass wir, um schlafen zu können, über unserem Bett einen Ventilator installieren mussten, hatte sie ihren ersten Zusammenbruch. Schon am Vortag – beim gemeinsamen Abendessen – war es in ihrer Dachgeschosswohnung, die für eine Person fast zu groß war, unerträglich heiß gewesen. Nach dem Essen wirkte meine Mutter auf mich ungewohnt wortkarg und unkonzentriert. Deshalb fuhr ich am nächsten Tag gleich nach der Arbeit zu ihr „um nach dem Rechten zu sehen“ und fand sie in ihrer Wohnung hilflos am Boden liegend. Die eilig herbeigerufenen Rettungssanitäter schauten sich das Trauerspiel eine Zeit lang an und stellten Fragen, deren Antworten für mich offensichtlich waren. Dann erst entschlossen sie sich, meine immer etwas zu körperlicher Fülle neigende Mutter drei steile Treppen hinunter zu tragen und in den vor dem Haus wartenden Krankenwagen zu verfrachten.

      Auf meine Weisung hin fuhren sie mit ihr in die Notaufnahme der Klinik, obwohl Gerda auf keinen Fall wieder dorthin wollte. Nur einmal vorher war sie dort gewesen, aber das hatte ihr gereicht: „Ich muss mich jetzt einmal gründlich untersuchen lassen, fahr' mich bitte ins Krankenhaus!“, war damals ihre Mission gewesen. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihren Wunsch wortgetreu auszuführen. Es versteht sich von selbst, dass in der Klinik niemand begeistert war über diese „eingebildete Kranke“, die zwischen Schlaganfall-Patienten und anderen schweren Erkrankungen die Aufmerksamkeit der Notärzte aus subjektiver wie auch aus objektiver Sicht vollkommen unnötig in Anspruch nahm.

      Da man bei ihr medizinisch nichts Ernstes finden konnte, fing man an, ihren Geisteszustand gründlicher zu untersuchen. Und das war es, was Gerda sofort so übel nahm, dass sie auf keinen Fall mehr einen Fuß in diese Klinik setzen wollte. (Auch wenn sie anschließend jedem, der sie danach fragte, stolz erzählte, man habe ihr damals „einen für ihr Lebensalter außergewöhnlich guten Allgemeinzustand“ bescheinigt.)

      So machte ich nach ihrem Hitzeschlag erst einmal ein großes Geheimnis aus der Tatsache, dass ich sie genau wieder in dieselbe von ihr geächtete Klinik hatte verfrachten lassen. Der Grund: Für mich gab es in dieser Stadt einfach keine andere medizinische Instanz. Schon als ich Anfang der siebziger Jahre aus einer kleinen in diese mittelgroße Universitätsstadt gekommen war, hatte ich von meiner Studentenbude aus den Fortschritt der Bauarbeiten beobachten können. Hatte aus der Ferne mit ansehen können, wie winzig klein erscheinende Lastkraftwagen nach und nach riesige Berge aus Sand auftürmten, die dann von anderen ebenso klein erscheinenden LKWs emsig wieder abgetragen wurden. Wie das Gebäude Stockwerk für Stockwerk Gestalt annahm und höher und höher wuchs. Später führte ich gern meine privaten und im Allgemeinen überhaupt nicht kranken Gäste voller Stolz durch diesen riesigen Klinikneubau. Konzipiert für 20.000 Patienten, ausgestattet mit zwei zehngeschossigen Bettenhäusern und Arbeitsplatz für mehr als 5000 Vollzeitbeschäftigte beeindruckt dieses Haus mich auch heute noch durch seine zukunftsweisende Architektur und schiere Größe: Schon das über mehrere Stockwerke gehende lichtdurchflutete Atrium ist einfach atemberaubend. Ebenso beeindruckend die außen liegenden hohen Flure, deren meterhohe Glasfenster einen freien Blick auf die gigantischen, Hochhäusern gleichen Bettenhäuser gewähren. Alles in allem ein Ehrfurcht einflößender Bau, gleichzeitig das Versprechen größtmöglicher medizinischer Effizienz.

      Gerda war schon drei volle Tage in diesem kleinstadtgleichen Krankenhauskomplex, als sie endlich zu fragen wagte: „Sag' mal mein Jung‘, wo bin ich hier eigentlich? Ich bin doch nicht etwa wieder in der Klinik?“ Naturgemäß zögerte ich zuerst etwas mit der Antwort. Dann aber nahm sie meine wahrheitsgemäße Aussage zu meiner großen Erleichterung besser auf als erwartet: Im Gegensatz zu ihrem ersten Besuch in der Klinik war meine Mutter dieses Mal ein ernst zu nehmender medizinischer Fall. Also war sie auch entsprechend behandelt worden und niemand hatte dieses Mal Ihren Geisteszustand in Frage gestellt. Sie war sogar erleichtert, dass ich ihren Verdacht, sie sei wieder in der Klinik und nicht in irgendeinem anderen Krankenhaus gelandet, positiv bestätigen konnte. Denn das gab ihr die Gelegenheit, mit den Ärzten, Helfern und Helferinnen in der Klinik ihren Frieden zu schließen. Als sie nach einer Woche bei deutlich kühlerer Witterung geheilt in ihre Wohnung entlassen wurde, gab es Blumen für die Schwestern und eine großzügige Spende in die Kaffeekasse. „Alle waren hier so nett zu mir!“, sagte sie zum Abschied.

      Es begann im September

      Spätsommer 2012: Im Gegensatz zur heutigen Affenhitze war der Tag, an dem die Schwierigkeiten für uns begannen, angenehm warm und sonnig. Der Herbst war noch in weiter Ferne. Wir, meine Frau Petra und ich, waren gerade von unserem Ostseeurlaub zurückgekehrt, hatten Gerda unsere Urlaubsbilder gezeigt und waren auf dem besten Wege, wieder vollkommen der üblichen Alltagsroutine zu verfallen. Nach der Arbeit war ich wie auch zuvor mindestens einmal in der Woche bei meiner Mutter zum Abendessen eingeladen. Gerda kochte gern und freute sich ebenso sehr auf meine Gesellschaft wie auf das gemeinsame Essen. Heute gab es mein Leibgericht: panierte und in Butter gebratene Hähnchenteile, so frisch und lecker, wie sie kein anderer Mensch als meine Mutter zubereiten konnte. Dass dieses Mal Vorsuppe und Nachspeise fehlten, was bei meiner Mutter sonst nie vorgekommen war, fiel mir zunächst gar nicht auf. Ich freute mich zu sehr über das gute Hauptgericht.

      Dann passierte es. Gerda senkte den Kopf und schaute auf ihren Teller. Angesichts ihrer ehrfürchtigen Haltung erwartete ich ein Tischgebet. Stattdessen sagte sie plötzlich – nicht sehr laut, dafür aber umso bestimmter: „Das ist jetzt die Henkersmahlzeit!“ Ich ließ vom Essen ab und schaute sie verblüfft an. Petra und mir war es bisher immer so vorgekommen, als ob Gerda zu denjenigen vom Glück begünstigten Menschen fortgeschrittenen Alters zählte, an denen der Tod kein besonderes Interesse zu haben schien. Die vielleicht sogar ihre eigenen Kinder überleben würden. Zwar klagte sie seit einiger Zeit, dass sie zunehmend schlechter schlief, nach mancher Nacht auch mal über Übelkeit und Erbrechen. Doch ihre über siebzig Quadratmeter große Wohnung versorgte sie fast vollkommen allein mit nur wenig Hilfe von unserer Seite. Ihre Lebensmittel bestellte meine Mutter von ihrem eigenen Telefax-Gerät aus bei einem großen Lebensmittelhändler, sodass wir ihr außer unserer regelmäßigen Gesellschaft beim Essen und beim Bauernrommé wenig zu bieten hatten. Es war ihr wichtig und sie war stolz darauf, es bis ins 93-zigste Lebensjahr geschafft zu haben, ohne „den Kindern“, sollte heißen: ohne Petra, meiner ohnehin weit entfernt lebenden Schwester Eva und mir „zur Last zu fallen“.

      An dem besagten Septembertag bestand allerdings kein Zweifel mehr, dass sie ihre Aussage absolut ernst gemeint hatte. Denn sie legte noch nach: Nachdem sie schon einmal kurz den Gedanken geäußert hatte, ins Pflegeheim zu wollen, dann aber wieder davon abließ, meinte sie nun, jetzt wäre es wohl wirklich an der Zeit, diesen für sie sicher


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