Tod einer Kassenpatientin. Rainer Bartelt
Sturz…mit Platzwunde am Hinterkopf und Schädelhirntrauma.“
Zu unserer allgemeinen Verwunderung schien dieser schwere Sturz Gerda erstaunlich wenig ausgemacht zu haben. Weder klagte sie über Kopfschmerzen, noch machte sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus einen lädierteren oder irgendwie verwirrteren Eindruck als zuvor. Tatsächlich konnten weder Petra noch ich selbst irgendeine wie auch immer geartete Wunde auf Gerdas Kopf entdecken, als sie wieder zuhause war. Die ganze Angelegenheit war für uns unerklärlich. Für mich, weil das Bett so gut gepolstert war, dass sich eigentlich niemand so daran verletzen konnte, dass Blut fließen musste. Und für Petra, weil sie auch bei genauerem Hinsehen überhaupt keine Verletzung am Kopf erkennen konnte. Weder eine Platzwunde, noch einen Beule, einen Bluterguss oder etwas Ähnliches.
Schließlich war es meine Frau, die mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit das Rätsel endlich löste: Am Tag nach dem Klinik-Aufenthalt, als wir alle wieder einigermaßen zur Ruhe gekommen waren, entdeckte sie bei Gerda eine dem Anschein nach von der Klinik unbeachtete und unversorgte Risswunde an ihrem linken Handgelenk. Es folgte ein kurzes Rätselraten, und dann lag die Wahrheit offen zutage: Mutti war wohl auch mit dem Kopf gegen das Bett gestoßen, sie hatte sich aber offensichtlich nicht am Kopf verletzt, sondern am Handgelenk. Das Blut, das vermeintlich aus einer Platzwunde am Kopf stammen sollte, war in Wirklichkeit aus ihrem linken Arm geflossen. Sie musste sich mehrfach mit der Hand über ihren Kopf gegangen sein, sodass das aus dem Handgelenk austretende Blut ihre Haare verschmiert hatte. Unglaublich, aber wahr: Die Ärzte in der Klinik waren allein nach dem äußeren Anschein gegangen (blutige Haare) und hatten so – trotz des größtmöglichen denkbaren technischen Aufwandes (Röntgen und Computer-Tomografie) – haarscharf an den medizinischen Tatsachen vorbei diagnostiziert. Leider sollte das kein Einzelfall bleiben…
112 hat Diskussionsbedarf
Der Ausflug in die Klinik und auch der Besuch des Gutachters waren schnell vergessen, denn meine Mutter versorgte uns jetzt von Woche zu Woche mit neuen Herausforderungen und Aufregungen. Zuerst ging ihre provisorische Gehhilfe, der Teewagen kaputt. Ein Rollator war zwar schon bestellt, aber noch nicht geliefert. Also musste schnell ein weiterer provisorischer Ersatz in Form eines kurz vor Ladenschluss im Möbelgeschäft gekauften, mit Rollen versehenen Computertischchens besorgt werden.
Als das Problem gelöst war, war plötzlich ihre „gute Armbanduhr“ verschwunden, und natürlich wurde sofort die neue Reinmachefrau verdächtigt: Wer ging denn sonst seit kurzem unbeobachtet in Gerdas Wohnung ein und aus? Man habe ja schon früher entsprechende Erfahrungen gemacht… Die von Anfang an etwas gespannte Stimmung zwischen meiner Mutter und der Raumpflegerin wurde durch diese aus Petras und meiner Sicht vollkommen unbegründeten Verdächtigungen natürlich nicht gerade besser. Es nützte auch gar nichts, dass es am Ende genau diese aus Sicht meiner Mutter höchst verdächtige Person war, die ihre heiß geliebte Uhr ein paar Tage später beim Aufräumen hinter Gerdas Bett fand, wohin meine Mutter sie wohl hatte fallen lassen. Nach kurzer Freude gab es daher von Gerdas Seite statt einer Belohnung böse Blicke für die glückliche Finderin, gepaart mit trotziger Schweigsamkeit.
Das Essen auf Rädern schmeckte meiner Mutter schon nach wenigen Tagen nicht mehr: Sie aß nur noch die Vorsuppe und probierte ein, zwei Löffel vom Hauptgericht, mehr nicht. Deswegen und wegen ihrer immer drängender werdenden Verdauungsprobleme musste ein Arzt her. Leider war sie mit ihrer bisherigen Hausärztin schon seit längerem unzufrieden, sodass nach kurzer Suche ein vollkommen neuer Arzt namens Dr. Sander die Bühne betrat. Herr Sander war eigentlich ein sehr erfahrener, angesehener und vertrauenswürdiger Allgemeinarzt. Dummerweise aber auch entsprechend nachgefragt, sodass seine Praxis oft stunden- bis tagelange telefonisch nicht zu erreichen war. Wenn man dann durch kam und um einen Besuch bat, musste er sich selbst offensichtlich mühen, ausreichend Zeit für Gerda zu finden. Meine Mutter machte daher trotz der vom fachlichen Standpunkt jetzt durchaus zufriedenstellenden hausärztlichen Versorgung gesundheitlich nur geringste bis keine Fortschritte.
Die erste wirklich ernste medizinische Krise ließ nicht lange auf sich warten. Nach einer anstrengenden Arbeitswoche klingelte mich das Telefon am letzten Oktober-Samstag um zwei Uhr früh mitten aus dem Tiefschlaf. Gerdas Stimme klang besorgniserregend, und was sie sagte, noch mehr: „Mein‘ Jung‘, du musst mir helfen. Ich habe so Bauchschmerzen, ich halt' das nicht mehr aus. Ich glaube, ich muss wieder ins Krankenhaus!“ „Soll ich die 112 rufen?“ „Ja, mein' Rainer, mach' das bitte für mich!“ Ich riet ihr daraufhin, gleich nach dem Telefonat direkt zur Wohnungstür zu gehen, um dort auf die Rettungssanitäter zu warten: „Die schlagen dir sonst noch die Tür ein, wenn du ihnen nicht schnell genug öffnen kannst!“ „Ja, mein' Jung', ich geh‘ gleich zur Tür und warte dort!“
Was dann passierte, hatte ich so zuvor noch nie erlebt und hoffe auch, es so niemals wieder erleben zu müssen: An der Notrufnummer schob eine entweder vollkommen unerfahrene oder vollkommen unfähige Lusche Dienst, ein Praktikant vielleicht, ganz nach dem Motto: „Chef nicht da, und ich weiß auch kein Bescheid!“ Fing der Mensch am anderen Ende der Telefonleitung doch tatsächlich an, mit mir darüber zu diskutieren, ob das mit den Bauchschmerzen meiner Mutter denn wohl ganz so schlimm sei und ob er wirklich die Sanitäter schicken müsse. „Wissen Sie denn überhaupt, dass es auch den Notdienst der Hausärzte gibt?“ Morgens um zwei Uhr? Ich konnte es nicht fassen. Um diese Zeit schläft auch der Hausarzt-Notdienst den Schlaf des Gerechten. Was die Nulpe am anderen Ende der Leitung aber nicht zu wissen schien.
Dann wollte er plötzlich die Telefonnummer meiner Mutter von mir, um selbst dort anzurufen. Als ich ihm aber erklärte, sie sei jetzt wohl schon an der Tür, um auf Hilfe zu warten, und würde deshalb möglicherweise nicht schnell genug zum Telefon am anderen Ende der Wohnung kommen, meinte die Intelligenzbestie doch tatsächlich, ich solle doch bitte selbst nochmal bei meiner Mutter anrufen, um die Situation abzuklären. (Was ja ein mindestens genau so wenig erfolgversprechendes Unterfangen gewesen wäre, als wenn er selbst dort angerufen hätte!)
Nach gefühlten fünf Minuten ergebnislosem Hin und Her platzte mir dann endlich der Kragen: „Einen Scheissdreck werde ich tun! Meine Mutter hat mich gebeten, einen Notruf abzusetzen, und das habe ich hiermit getan. Jetzt liegt die Verantwortung bei ihnen. Ich lege jetzt auf. Sie haben die Telefonnummer meiner Mutter und können selbst dort anrufen, wenn sie unbedingt wollen. Ich für meine Person habe gesagt, was ich weiß. Die Entscheidung, ob sie einen Krankenwagen schicken wollen oder nicht, liegt jetzt ganz allein bei ihnen!“ Bumms, mein Funktelefon knallte in die Station.
Als ich nach einer kurzen und schnellen Fahrt durch die menschenleere Stadt etwa eine Viertelstunde später bei meiner Mutter eintraf, waren die Rettungssanitäter schon wieder weg. Verglichen mit der ganzen Aufregung am Telefon hätte die Szenerie, die ich in ihrem schummrigen Schlafzimmer vorfand, nicht weniger spektakulär sein können: Gerda lag im Bett, die Bettdecke stramm hochgezogen, und auf dem Nachttisch vor ihr stand nichts weiter als ein kleines Fläschchen mit Magentropfen, daneben ein schnell ausgefülltes , gefährlich rot eingefärbtes Diagnoseformular. „Geht es dir besser?“ Sie schüttelte den Kopf. „Trink was, vielleicht hilft dir das!“ Mit etwas klarem Wasser und vielen guten Worten bekam meine Mutter dann irgendwann doch noch die Kurve in dieser Nacht. Aber mehr als eine Mütze Schlaf war es nicht, was wir beide am Ende bekamen, bevor der Morgen graute. Ihre Appetitlosigkeit, ihre Übelkeit und ihre Magenschmerzen machten Petra und mir so große Sorgen, dass wir gemeinsam mit ihrem neuen Hausarzt beschlossen: „Gerda muss wieder zu einer gründlichen Untersuchung in die Klinik!“
Die Klinik gibt Entwarnung
Da eine Überweisung vom Hausarzt vorlag und ich nicht nur nicht auf Reisen war, sondern auch die Möglichkeit hatte, ausnahmsweise früher Feierabend zu machen, konnte ich meine Mutter am darauf folgenden Freitag, dem 31. Oktober, selbst in die Klinik fahren. Vor dem Parkplatz der Notaufnahme gab es eine kurze Diskussion mit dem Parkwächter, weil kein Schwerbehinderten-Ausweis an der Windschutzscheibe meines Autos klebte. Wir durften dann aber doch dort parken. Gott sei Dank, denn die 25 Meter Luftlinie vom Auto zum Empfang der Notaufnahme erwiesen sich für Gerda zu meiner großen Verwunderung als eine schier unüberwindliche Distanz.