Tod einer Kassenpatientin. Rainer Bartelt

Tod einer Kassenpatientin - Rainer Bartelt


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keinen Plan hatte, was nun konkret zu tun war. Denn weder Petra noch mir war klar, wie wir den Wunsch meiner Mutter realisieren sollten und konnten. Da unsere Ehe kinderlos geblieben war, verfügten wir über keinerlei praktische Erfahrung, wie es war, für nahe Angehörige zu sorgen. Denn auch um Petras Eltern und um meinen schon vor vielen Jahren verstorbenen Vater hatten sich andere gekümmert: Meinen Vater hatte meine Mutter bis zum Ende selbst versorgt, und auch Petras Eltern waren nicht in unserer Obhut gestorben.

      Wir waren also erst einmal vollkommen ohne Orientierung und ziemlich ratlos. Das einzige, was ich meiner Mutter sofort geben konnte, war eine Informationsbroschüre des örtlichen Sozialamts mit einschlägigen Telefonnummern. Ich bat Gerda, sich dort einen Termin für ein persönliches Beratungsgespräch in ihren eigenen vier Wänden geben zu lassen. Aber entweder war meine Mutter, das Amt oder beide gemeinsam überfordert, jedenfalls kam es nie zu diesem Gespräch.

      Stattdessen fingen wir an, mit Freunden und Bekannten über Gerdas Wunsch nach Pflege und Betreuung zu diskutieren. Der entscheidende Hinweis für eine eigentlich ziemlich nahe liegende Lösung kam von Yvonne, unserer Nachbarin, die während des Urlaubs mehrmals nach Gerda geschaut hatte:

      „Da gibt es doch dieses neue Pflegeheim im Gartenweg, das ist wohl ganz gut.“

      Und weiter:

      „Ich bin mal dagewesen und habe mir alles angeschaut, als es noch nicht vollständig eingerichtet und bezogen war. Ich kann natürlich nicht sagen, wie man dort heute so wohnt. Damals fand ich alles aber ausgesprochen freundlich und modern.“

      „BINGO - das ist die ideale Lösung!“, dachte ich spontan. Das Heim, von dem Yvonne sprach, lag direkt neben meiner Arbeitsstelle. Nur eine einzige Häuserzeile trennte mein Büro von diesem Pflegeheim. Tag für Tag fuhr ich dran vorbei, wenn ich zur Arbeit wollte. Einfach genial – nur dass ich nicht von selbst auf diese einfache Lösung gekommen war, verblüffte mich: Hier würde ich Gerda ganz in meiner Nähe haben, hier würde ich mich noch besser um sie kümmern können als in ihrer jetzigen, fast am anderen Ende der Stadt gelegenen Wohnung. Nach ihrem Umzug würde ich sogar wieder häufiger auf das Auto verzichten und viel einfacher mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren können, weil ich nicht mehr durch die ganze Stadt fahren müsste, um Gerda zu besuchen.

      Um meine Mutter ebenfalls für diese Idee zu gewinnen, ging ich an den PC und ins Internet, rief Google-Maps auf, wählte die Satellitenansicht und druckte eine Großaufnahme vom Heim und dem fast unmittelbar daneben liegenden Bürogebäude aus, in dem ich arbeite. Genau wie ich war Gerda von Yvonnes Vorschlag sofort überzeugt: Sie selbst im Heim gut versorgt und „mein Jung‘“ gleich um die Ecke. Diese Vorstellung gefiel ihr ausnehmend gut. Dem Umzug ins Pflegeheim stand damit unsererseits nichts mehr im Wege. Nur leider, leider: Das Heim konnte uns zwar sofort häusliche Pflege anbieten – einschließlich Reinigungsdienst und Essen auf Rädern –, es gab aber kein freies Zimmer. Stattdessen eine lange Warteliste. Auch einige Zeit später, als ich erneut nachfragte, hatte Gerda auf dieser Warteliste noch mindestens sieben weitere Interessenten vor sich. Diskret erkundigte ich mich bei der Heimleitung nach der Anzahl der Pflegebetten und der typischen Verweildauer der Bewohner: Knapp über 100 Betten geteilt durch eine im Durchschnitt nur zweijährige Aufenthaltszeit ergaben grob geschätzt vier Todesfälle oder sonstige Abgänge pro Monat! Anders als Gerda, die natürlich enttäuscht war, dass sie nicht sofort aufgenommen wurde, und auch Petra und Yvonne, die sich und mich fragten, ob man nicht noch anderswo schauen sollte, sah ich gute Chancen, in einem noch ausreichenden Zeitrahmen die Zusage für einen Heimplatz zu bekommen. Spätestens im Februar musste Gerda aller Wahrscheinlichkeit nach in ihrem neuen Zuhause sein. Vor allen anderen Dingen war es mir ganz besonders wichtig, meine Mutter tagsüber möglichst nahe bei mir zu haben. Daher kam für mich kein anderes Heim in Betracht.

      Zwischen Wischmopp und Handfeger

      Viel Zeit zum Überlegen hatte ich ohnehin nicht, denn nun kamen vollkommen neue Aufgaben auf mich zu. Ich, der jetzt den Lebensmittelhändler ersetzen und für Gerda ab sofort auch alle anderen Dinge des täglichen Lebens besorgen musste, bekam plötzlich E-Mails folgender Art:

      „Hallo Frau Bartelt, nachfolgend wie besprochen die ‚Idealliste‘ unserer Hauswirtschaftskraft.

        Schrubber und Bodentuch + Eimer oder alternativ Wischmopp und Eimer

        Besen, Handfeger & Kehrblech, Staubsauger (+ vorrätige Wechselbeutel)

        2-fach Ausführung (wegen Waschwechsel) Mikrofasertücher in vier Farben (Küche, Möbel, Bad, Toilette)

        Kleiner Putzeimer und Abzieher f. Fenster

        Reiniger f. die verschiedenen Bereiche

        Müllbeutel und gelbe Säcke

        Leiter oder Tritt

       Mit freundlichen Grüßen…“

      Nun, diese „Frau Bartelt“, die alle nötigen Sachen für den zum Heim gehörenden Reinigungsservice besorgen musste, war ich selbst. Denn in erster Linie fühlte ich mich persönlich für meine Mutter verantwortlich, Petra, deren langer Arbeitstag oft bis 19 Uhr dauert, wollte ich mit Muttis Pflege nicht mehr als nötig belasten. Ich fand mich also an einem Samstagmorgen in der Putzmittel-Abteilung des nächstgelegenen Supermarktes wieder, unmittelbar nachdem ich Petra zur Arbeit gefahren hatte. „So muss sich eine Frau im Baumarkt fühlen!“, dachte ich. Ziemlich hilflos taperte ich von Regal zu Regal, bis ich endlich alles beisammen hatte, was auf der Einkaufsliste stand.

      Am Ende kam ein schöner Geldbetrag zusammen, der in keinem gesunden Verhältnis zum Materialwert der im Einkaufswagen liegenden Putzwaren stand. Aber was zählte schon der schnöde Mammon, wenn es um nichts weniger als Mutters Zukunft ging? Und die 'fremde Macht' – der Pflegedienst – zufrieden gestellt werden musste? Also hieß es, nicht zu kleinlich zu sein. Gab es doch eine große Aufgabe zu bewältigen: Eine große und ziemlich zugestellte Wohnung musste wieder auf Vordermann gebracht werden, die seit Jahren in den Ecken nicht mehr richtig gefegt worden war. Zwar hatte Petra meiner Mutter immer wieder ihre Dienste angeboten, Mutti hatte aber stets mit dem Hinweis entrüstet abgelehnt, sie habe selbst gerade „gründlich“ sauber gemacht. Petra schaute einigermaßen ungläubig in die Ecken, aber Widerspruch wurde nicht geduldet. Ende der Diskussion.

      Und so waren es keine „Wollmäuse“ mehr, die in den Zimmerecken ihre Jugend verbrachten, um anschließend unter und hinter den Schränken still und von Gerda unbemerkt umher zu wandern, sondern es waren „Wollkatzen“ oder in einzelnen Fällen sogar eher „Wollelefanten“, die einen traurigen Beleg für eine zunehmend verminderte Sehkraft meiner Mutter darstellten. Was mich aber am meisten verblüffte: Die vom Pflegeheim gestellte ambulante Reinigungsfachkraft fasste die in der Wohnung in reichlicher Anzahl vorhandenen Schmutznester keinesfalls als Ansporn auf, das Problem mit professioneller Energie anzugehen. Stattdessen beschwerte sie sich das eine über das andere Mal bei meiner Frau, wie dreckig doch die Wohnung sei, die sie sauber machen sollte. Das war eine Logik, die nicht so ganz in mein bisheriges intellektuelles Regelwerk passen wollte.

      Noch ein weiterer Grund führte dazu, dass der externe Reinigungsservice nicht sofort die gewünschte Wirkung entfaltete: Gerda fand es nämlich höchst spannend, was jetzt in ihrer Wohnung abging. Sie platzierte sich mit ihrem mit Rollen ausgestatteten Serviertischchen, das ihr als provisorische Gehhilfe diente, mitten am Ort des Geschehens und versuchte, den Arbeitseifer der vom Heim geschickten Reinigungskraft zu dirigieren und anzuspornen. Was auch umgehend Wirkung zeigte, wenn auch nicht die gewünschte: Sehr schnell wurden aus einer Reinigungskraft viele verschiedene Reinigungskräfte! Mit einem Mal kamen jede Woche immer wieder andere Frauen, die sich anschickten, die Wohnungsreinigung voranzutreiben. Bis schließlich eine gefunden wurde, deren Fell anscheinend dick genug war, um a) meine Mutter und b) die ganze Aufgabe nicht allzu ernst zu nehmen, dauerte es einige Zeit. Zu guter Letzt wurde en détail dann aber doch noch einiges auf den Pfad der Sauberkeit gebracht. Für mich, der später Gerdas leere Wohnung besenrein an den Nachmieter übergeben


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