Deadforce. Norbert Langenau
Bewohner. So groß diese Stadt auch war, so wichtig war sie auch, denn die goldene Stadt fungierte als eine Art Symbol der Hoffnung. Wenn es nämlich eine so große Stadt geben konnte und in der Friedenszeit nichts Schreckliches geschah, so war das vielleicht ein Zeichen, dass sich die Zeiten langsam änderten und alle friedlich miteinander leben konnten. Doch womöglich trog der Schein ja nur.
An einem kühlen Abend im April hielt die Stadtwache von Erudicor wie üblich Wache vor den Stadttoren. Das Osttor wurde von zwei Männern außerhalb und zwei Männern innerhalb der goldenen Stadtmauer behütet. Sie trugen Rüstungen mit einer Messinglegierung, die gold wirken und so die Schönheit der Stadt, in der sie lebten, betonen sollten. Es handelte sich um starke Plattenrüstungen und das für jede Stadtwache. Sie hätten zwar einfach Rüstungen aus Gold tragen können, jedoch war es ein unausgesprochenes Gesetz auf der ganzen Welt, niemals Rüstungen aus purem Gold zu tragen. Denn vor sehr, sehr langer Zeit gab es einst eine düstere Periode in der Weltgeschichte und aus dieser blieben noch immer einige mächtige Krieger in ihren goldenen Rüstungen übrig. Wenn man nun selbst eine Goldrüstung trug, so provozierte man diese Krieger und da sie unglaublich stark waren, bedeutete dies den Tod für fast jeden, der dies leichtfertig tat. Als Konsequenz mussten alle, die ihre Macht durch goldene Rüstungen darstellen wollten, auf Metalle ausweichen, die nur wie Gold wirken, wie etwa Messing. So auch in Erudicor, wo die Wachen vor dem Osttor ihre Pflicht gewissenhaft ausführten, denn schließlich wurden sie auch dafür entlohnt. In der Stadt gab es Gerede, dass die Wache am Osttor die kompetenteste sei. Das lag angeblich daran, dass die dort eingesetzten Wächter alle noch sehr jung waren und noch viel Motivation mitbrachten. Den Wachen am Nordtor hingegen sagte man nach, sie würden die ganze Zeit nur herumsitzen und Karten spielen, die im Süden wurden beschuldigt, während des Dienstes zu schlafen und jene im Westen waren offenbar dafür bekannt, gerne mal ihren Posten zu verlassen und die Gegend weiter westlich der Stadt zu erforschen. Ob das alles nun der Wahrheit entsprach oder nicht, war schwer herauszufinden. Natürlich abgesehen davon, wenn man sich die Zeit nahm und alle vier Tore mitsamt Wachen einen ganzen Tag beobachtete. Doch wer hatte für so etwas sowohl die Zeit als auch die Geduld? Enrique, einer der beiden äußeren Wächter am Osttor, wollte sich gerade hinsetzen und seine Beine ein wenig ausrasten, da wurde er schon von seinem Kollegen Dave ermahnt.
"Hey Mann, was wird das?", fragte er.
"Ich will mich nur kurz ausruhen. Nur ein paar Minuten.", antwortete Enrique.
"Ausruhen kannst du dich, wenn wir keinen Dienst mehr haben. Es wird jetzt ungefähr 19 Uhr sein. Siehst du, es ist ja schon dunkel. Also komm schon, die eine Stunde bis zu unserer Ablösung wirst du wohl noch aushalten."
"Na schön, aber dafür spendierst du mir nachher ein Bier."
"Mir soll's recht sein."
Einige Minuten verstrichen und sie sehnten sich schon danach, endlich Dienstschluss zu haben. Beide träumten schon von dem kühlen Bier in der Taverne, eine perfekte Belohnung für einen harten Arbeitstag. Doch dann riss ein Geräusch sie plötzlich aus ihren Tagträumen.
"Hast du das gehört?", fragte Dave.
"Ich bin ja nicht taub.", gab Enrique zurück.
"Das kam definitiv aus dem Wald. Ob sich wieder eines der Tiere zu nahe an die Stadt heran verirrt hat?"
Der Weg vom Osttor führte nach einigen 100 Metern direkt in einen weitläufigen Wald, der die Ausmaße der goldenen Stadt, zumindest vom Durchmesser her, noch übertraf. Er war aber mehr länglich und verlief so von Norden nach Süden. Von Westen nach Osten war er lange nicht so groß.
"Gut möglich, zumindest wäre mir ein Tier lieber als sonst irgendwas.", sagte Enrique.
"Was denkst du denn, was da sein könnte?"
"Keine Ahnung, vielleicht dieses Echsenvolk. Die sollen ja immer mehr werden, erzählt man sich in der Stadt."
"Vielleicht wollen sie aber auch gar nicht die goldene Stadt angreifen, sondern verschwinden von hier. Fahren rüber nach Amerika. So wie es diese eine Familie gemacht hat. Wie hießen die noch gleich?", fragte Dave.
"Meinst du etwa die, die dort drüben ein ganzes Reich aufgebaut haben?"
"Ja, die mein ich. Soweit ich weiß, leben die jetzt glücklich und zufrieden in ihrem Palast, direkt in der Hauptstadt ihres großen Reiches Hanveltien."
Erneut ertönte ein Geräusch, das so klang, als ob irgendetwas oder irgendjemand auf einen Ast getreten war, der danach zerbrach.
"Was zur Hölle ist das bloß?", fragte Dave erneut.
"Sollen wir uns das mal ansehen?"
"Ich geh da jetzt sicher nicht hinein. Der Wald ist mir schon am Tag nicht geheuer."
"Das ist doch nur ein Wald.", meinte Enrique.
"Das sagst du, aber ich habe anderes gehört. Da drinnen sollen sich seltsame Wesen tummeln."
"Glaubst du alles, was du hörst?"
"Wenn es wahr ist, schon."
"Woher willst du wissen, ob es wahr ist?"
"Manches hört sich einfach richtig an."
"Und wenn ich dir jetzt sage, dass ich in Wirklichkeit ein Gla-Bogga bin, der mithilfe eines Zaubers in einen Menschen verwandelt wurde und so das Volk von Anthem Gows unterwandert, um ihre Schwächen aufzudecken und dann seinem König mitzuteilen, damit die goldene Stadt fällt, würdest du das auch glauben?"
"Nein.", antwortete Dave. "Weil du es ins Lächerliche gezogen hast. So etwas ist doch gar nicht möglich."
"Wer weiß schon, was möglich ist. Ich denke, dass sehr viele seltsame Dinge vor langer Zeit passiert sind, aber heutzutage erfährt man von so etwas nichts mehr."
"Sieh mal, da bewegt sich was!"
Tatsächlich war eine Gestalt aus dem Wald gelaufen. Oder mehr gehumpelt. Es schien sich um einen Menschen zu handeln und er wirkte so, als ob er jeden Moment tot umfallen könnte. Sofort liefen die beiden Wachen ihm entgegen. Der Unbekannte stapfte noch ein paar Schritte und als er bemerkte, dass Hilfe bereits unterwegs war, ließ er sich auf die Knie fallen. Die Wachen erreichten ihn und fragten sofort:"Alles in Ordnung? Was ist passiert?"
Der Unbekannte sah sie beide an, dann verdrehte er die Augen und kippte bewusstlos um.
"Was ist nur mit ihm passiert?", fragte Enrique.
"Das weiß ich auch nicht. Er scheint aber noch ziemlich jung zu sein. Möchte wissen, warum er so erschöpft ist. Was sollen wir jetzt mit ihm tun?"
"Keine Ahnung, am besten, wir tragen ihn zurück zum Tor und fragen die Jungs dort, die können uns vielleicht sagen, was wir mit ihm machen sollen."
Also trugen sie den unbekannten Jungen zu zweit zurück zum Osttor. Es war keine weite Strecke, aber wenn man einen Menschen tragen musste, konnte sie schon etwas länger erscheinen. Schließlich kamen sie beim Osttor an und die inneren Wachen bemerkten sofort, dass etwas geschehen war.
"Was ist los? Was stimmt nicht mit ihm?", fragte einer.
"Das wissen wir auch nicht, er ist vor uns einfach umgekippt. Er hat kein Wort gesagt. Wir müssen ihm irgendwie helfen. Aber was können wir tun?"
"Bringen wir ihn zu uns in die Kaserne. Dort wird man sich um ihn kümmern. Und jemand sollte den Kaiser benachrichtigen. Sicher wird er wissen wollen, was es mit diesem Jungen auf sich hat."
"Gut, dann mal frisch ans Werk, Männer.", sagte Dave.
So brachten sie den Jungen in die Militärkaserne und dort kümmerte sich ein Arzt um ihn. Außer einer Wunde am Hinterkopf, die wohl stark geblutet hatte, besaß der Junge keine Verletzungen. Der Arzt meinte, wenn er erschöpft war, dann wahrscheinlich, weil er sich zu sehr angestrengt hat. Jedenfalls gab es keine andere Erklärung dafür und auch keine Verletzung, die man dafür hätte verantwortlich machen können. Dave war indessen zum Kaiser geeilt, um ihm die Nachricht vom unbekannten Jungen zu überbringen. Aber man ließ ihn nicht zu Kaiser Theron, denn ab 18 Uhr war der Kaiser nicht mehr