Die Glocken der Stille. Arber Shabanaj
Rezeption, überzeugt davon, dass ich seit gestern viele Ereignisse seiner Stadt mitbekommen hätte, erzählte mir mit Aufmerksamkeit sogar, dass ihre Beerdigungszeremonie an dem kommenden Tag stattfinden wird. Als ob ich als Gast in der Stadt eine Verpflichtung empfände, dort hinzugehen, damit ich mein Beileid aussprechen könnte.
Den Morgenkaffee trank ich mit Busch zusammen. Jetzt war es eindeutig zu begreifen, dass die Anwesenden über Frau Duden diskutierten. Sie bewunderten sie, umso mehr aber ihr Klavier, über das behauptet wurde, ins vergangene Jahrhundert zu gehören.
Sollte es in Wien angeboten werden, mit dem magischen Klang und der künstlerischen Ausstattung, würde dessen Hersteller inzwischen, als Gegenwert, seine gesamte Fabrik eintauschen, laut Aussage eines bekannten Jazzmusikers.
Vielleicht hatte das, was Busch mir gestern Abend über Mark und Flora erzählt hatte, sowie über Frau Duden und Herrn Tom Dick, mich in eine tiefe Überlegung hineinversetzt. Ich war dabei, in meinen Gedanken eine Reportage zu skizzieren. Doch zunächst ließ ich diesen Gedanken fallen, weil unser Chef „derartigen Steinbruch“, wie er es nannte, nicht akzeptierte, obwohl andere Zeitungen ihn für maßgeschnitten hielten. Unsere seriöse Zeitung war damit nicht zu identifizieren. Ich wollte jedoch unbedingt etwas mehr erfahren und fragte Busch gleich nach dem Kaffee stürmisch danach:
„Sollten wir doch hingehen, um unser Beileid auszusprechen?“
Busch erzählte mir, dass er sogar mit der Absicht gekommen sei. Da am vergangenen Abend, bei der warmen Begrüßung, die wir von Mark und Flora beim Spazieren und dann auch im Restaurant erhalten hatten, wir fast dazu verpflichtet wären, einen Beileidsbesuch zu machen.
Die Teschestraße war eine Straße, die mit Straßen der Stadt vergleichbar war. Mit Appartements in vier- und fünfstöckigen Häusern, fast gleich verteilt ausgestattet. Mit Kiosken, sowie auch hier und da einem Lokal und mit Menschen, die jeweils ihren eigenen Beschäftigungen nachgingen. Die Straße hatte nur ihren besonderen Namen, da es Gerüchte gab, die Sippe Tesche habe sich von dort aus losbewegt. Auch führte die Straße nirgend wohin, weil sie am Haus der Frau Duden endete.
Das Haus wirkte wie eine Villa, die mit einer modernen Architektur gebaut war. Seit dem Tod des Hausherren vor einigen Jahren, als Mark noch ein Schüler war, fehlte dem Garten eine pflegende Hand. Die Bäume waren schief und streuten ohne System vor sich her, an einigem Krautgewächs war eindeutig zu merken, dass hier seit Jahren kein Meister tätig gewesen war. Der Blick des Betrachters fiel sofort auf die Blumen. Das Klavier und die Blumen waren Frau Dudens Lebenspassion.
In dem Raum, gegenüber vom Hauseingang, warteten Mark und Flora und zwei weitere Frauen, mit Sicherheit Toms Familienangehörige. Laut Busch, der mir auf dem Weg erzählte, hatte Frau Duden keine Angehörigen in dieser Stadt, aber möglicherweise könnten später ein paar Verwandte aus Düsseldorf kommen.
Um die Wahrheit zu sagen, auf dem Weg zu Frau Dudens Haus, wurde der Gedanke wie ein Lichtstrahl in mir wach, dass sich jemand über ihren Tod freuen könnte, und dieser Mensch wäre Flora. Denn es wäre bestimmt nicht lustig, deine jungen Jahre auf der Straße zu verplempern, vierzig Jahre alt zu werden, und noch immer keinen Menschen zu haben, der dich mit Ehefrau oder Mutter anspricht.
Doch während den wenigen Minuten meines Aufenthaltes dort, spürte ich wie ich mich getäuscht hatte.
Flora flossen die Tränen während Mark sprach und dabei der Name von Frau Duden genannt wurde.
„Vielleicht wenn ich nicht in diesem Kreis wäre, hätte sie länger gelebt!“, sagte Flora und ihr flossen die Tränen erneut.
Mark schaute sie gefühlvoll an, da er ihre Seele gut kannte und er war sich sicher, dass sie nie etwas tun würde, wenn ihre Seele das nicht zugelassen hätte.
Einer erzählte uns, dass sie unter dem Schlafkissen von Frau Duden Floras erstes Foto gefunden hätten, das der Sohn ihr mitgebracht hatte, um sie kennen zu lernen.
So wurde, an diesem Tag und am folgenden, Frau Duden zum Hauptthema jeden Gespräches. Am nächsten Tag musste ich nach Berlin zurückkehren.
*
Nach drei Jahren, war ich erneut geschäftlich in der Stadt W.
Als ich dort in einen Linienbus eingestiegen war, tauchten vor meinen Augen Mark und Flora auf und auch sie, die ich nie gesehen hatte, Frau Duden. Ich dachte, mit Sicherheit würde das Paar mittlerweile um ein Kind reicher sein, und von großer Bedeutung wäre es gewesen, sollte es ein Mädchen sein und die Beiden hätten ihr den Namen der Großmutter gegeben, Emma. Ich war nahezu ungeduldig, endlich die Stadt zu erreichen und wie vor drei Jahren, den Mitarbeiter der Zeitung, Busch, zu treffen, um von ihm alles zu erfahren.
Der Tag war herrlich, wie auch jeder andere Frühlingstag. In den umliegenden Feldern wurde gearbeitet. Ich aber - der Ich dienstlich für die Zeitung unterwegs war - interessierte mich nicht so sehr für die Tagesarbeit. Jene Aufgabe möchte der Chef der Grünen für sich rekultivieren, und die anderen freiwilligen Korrespondenten. In meiner optischen Linse war die Seele der einfachen Menschen, obwohl ich schon immer gespürt hatte, dass in einer Zeitung nicht alles gesagt werden konnte. Gewöhnlich, was ich dort nicht unterbringen konnte, schrieb ich in meine Erzählungen, die ich abends in meiner Wohnung verfasste.
Also wusste ich, dass mir irgendwo eine nicht abgeschlossene Erzählung geblieben war, der ich ohne sie beendet zu haben, bereits den Titel gegeben hatte: „Frau Duden“. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb ich, sobald ich in den Linienbus eingestiegen war, die realen Protagonisten vor meinen Augen hatte, doch auch die aus meinen Phantasien, um die ich rundum kreierte.
Der Linienbus gehörte nicht zu den neuen Modellen, dennoch tat der Fahrer alles, um mich auf einem der vorderen Sitze unterzubringen, sobald er erfuhr, dass ich Journalist war. Schon möglich, um mir damit eine Art „Kommodität“ gestalten zu wollen, hielt er für mich sogar den Nebensitz frei.
Während der Fahrt, als sich jemand dort hinsetzen wollte, argumentierte der Fahrer spontan, der Sitz sei für den Gutachter reserviert, der feststellen würde, ob sein Bus noch fahrtüchtig sei und der würde während der Fahrt dazusteigen.
„Sie wurde von mir erfunden, die Geschichte mit dem Gutachter.“, sagte der Fahrer, nachdem wir die ersten einhundert Meter gefahren waren. Damit wollte er mir wohl klar machen, dass er den Platz für mich freihielt, um mich nicht mit einem weiteren Fahrgast zu belästigen.
„᾿Bruder‘(! ...), der vermeintliche Gutachter taucht kaum auf.“, beschwerte sich einer der Fahrgäste. Derselbe sagte, dass er von Übelkeit heimgesucht wird, wenn er stehen müsse.
Zwischenzeitlich stand ich kurz davor, dem Fahrer zu sagen, den Sitz jenem Fahrgast anzubieten, als plötzlich zwischen den Haltestellen auf dem Weg jemand stand und mit Gesten ums Anhalten bat.
Der Fahrer machte eine Ausnahme und hielt an! Ein junger Mann, mit einer Narbe an der rechten Wange, stieg ein. Irgendwie, sobald ich denjenigen sah, tauchte auf einmal in meiner Erinnerung Mark auf, Frau Dudens Sohn, mit der charakteristischen Narbe, die ihn unvergesslich machte.
„Wie geht es, Freund?“, fragte der Junge mit einer Art Naivität, die dir bestätigte, dass du es mit jemandem zu tun hattest, der nicht allzu oft aus dem Haus kam, um sich auf eine Reise zu begeben.
„Aus der Stadt W. kommst du?“, fragte ich ihn.
„Nein“, antwortete er mir, „doch um etwas zu erledigen bin ich in die Stadt W. gekommen.“
Ich schaute ihn prüfend an.
„Und du“, fragte er mich, „woher kommst du?“
„Aus Berlin bin ich.“, war meine Antwort.
„Lehrer sind Sie?“, fragte erneut der junge Mann, und schaute auf mein Buch, das ich gerade aufgeschlagen hatte.
„Als Lehrer hatte ich die Universität abgeschlossen, doch arbeite ich als Journalist.“
„Einmal haben sie auch über mich geschrieben.“, meinte der Junge und atmete tief ein. „Schon möglich, dass du es gelesen hast: ᾿Der Junge mit der Narbe‘.“