Die Glocken der Stille. Arber Shabanaj
Der Redaktionschef war baff, dass Menschen etikettiert werden durften, sowohl in den Titeln, als auch in der Schrift. Gerd, der Vizechef, fügte hinzu, dass es nicht seriös wäre, der Erzählung einen derartigen Titel zu geben, wie: „Behinderter, der den Normen entspricht“, oder „Blinder, der sich selbst gefunden hat“.
„Hast du jemanden in W.?“, fragte ich ihn.
Der Junge wirkte plötzlich mitgenommen, doch gleich beherrschte er sich wieder.
„Wie soll ich sagen … Ich bin einfach so hier wegen einer Sache. Es ist das erste Mal für mich und ich kenne keinen hier.“
„Dann wirst du in einem Hotel buchen müssen?“, fragte ich ihn weiter, überzeugt davon, dass er sich auch so verhalten würde.
„Doch, doch.“, antwortete er mir. „Möglicherweise wird mein Aufenthalt sich um einen weiteren Tag verlängern.“
Der Bus hatte letztendlich nicht mehr mit den ausgebesserten Schlaglöchern zu tun und so schüttelte er uns nicht mehr so sehr.
„Hast du Eltern?“, fragte ich ihn.
„Ja.“, antwortete er kurz und bündig. „Ich habe Mutter und Vater.“
„Sie arbeiten, sicherlich.“, fragte und bejahte ich, abgesehen von dem Alter des jungen Mannes mit der Narbe.
„Ah, nein.“, sagte er und atmete erneut tief ein. „Sie sind in Rente.“
Danach floss unser Gespräch leichter über mehrere Tagesprobleme, über die Sportsphäre und eher weniger über Themen des Kunst- und Kulturlebens. Der Junge mit der Narbe lebte in einem Dorf. Vor kurzem hatte er seinen Wehrdienst in einer Panzerbrigade beendet und jetzt arbeitete er als Traktorfahrer und Erntehelfer. Diese Kontinuität, wie es scheint, könnte den Korrespondenten der „Allgemeinen“ beeinflusst haben über ihn zu schreiben. Denn, wäre der einmalige Titel nicht gewesen, wäre der Text an dem Tag danach schon vergessen.
Es war nur logisch, dass wir beide uns an das Hotel „Inter City“ wandten, das ich bereits gut kannte und damit der Junge sich ebenfalls ein Zimmer mieten konnte.
„Wie heißt du?“, fragte ich ihn.
„Flober.“, antwortete er und ich zuckte zusammen. „Flober Marsch.“
„Und du?“
„Skipetar Sotti.“, antwortete ich und gab ihm die Hand.
Mein Hotelzimmer war schön, möglicherweise war es das gleiche Zimmer, in dem ich vor drei Jahren übernachtet hatte. Auch das Zimmer von Flober war gemütlich eingerichtet.
Da die Reise nach W. nicht von kurzer Dauer war, spürte ich die Notwendigkeit sobald wie möglich Mittag zu essen.
„Flober“, sagte ich, „willst du Mittag essen?“
„Ja.“, antwortete er, und wie ein treues Lamm folgte er mir. Dennoch war ich dabei, ihn wie einen Reisebegleiter und Kumpel zu betrachten.
Das Restaurant war das Gleiche: Mit den Tischbezügen und mit dem Standardwandfarbton und durch die Bilder aufgefrischt. Der einzige Unterschied waren die Menükarten auf den Tischen und die Baumwollgardinen. Aus der Anlage erreichte uns eine klassische Musik und ab und an war das Klappern der Deckel der Kochtöpfe und der Pfannen aus der Küche minimal zu hören.
Es war zu erkennen, dass Flober selten in einem Restaurant war und er bevorzugte das gleiche Menü zu kosten, was ich bestellt hatte.
Während der Junge, wie jeder neuankommende Besucher, sich bemühte, mit dem Restaurant vertraut zu werden, landeten meine Augen auf dem Tisch am Fenster, dort wo - wie damals auch -, ein Blumenstrauß stand. Es war der Tisch vom Mark und Flora.
Ich war mir sicher, dass sie nicht mehr hierhin kommen werden, weil die Beiden jetzt ein richtiges Paar sein mussten. Sie hatten ihr Zuhause und hierher kämen sie höchstens, um sich an ihre jungen Zeiten zu erinnern.
„Flober, du hast einen sehr interessanten Namen.“, sagte ich ihm. „Wie es scheint, waren deine Eltern große Sympathisanten des Gustave Flaubert, von der ᾿Frau Bovary‘.“, fügte ich hinzu, überzeugt davon, dass jemand mit dem großen französischen Schriftsteller sympathisierte und ihm dessen Nachnamen als Vorname gewidmet hatte.
„Ah, nein Skipetar“, sagte er und schien dabei zu überlegen, „viele Menschen haben das Gleiche behauptet. Doch weder Mutter, noch Vater sind belesen. Sie sind ganz einfache Menschen, Landarbeiter.“
„Nun dann, woher?“, bestand ich darauf, obwohl mir im Klaren war, dass ich meine Art der Fragestellung damit übertraf.
„Prost, zum Wohl!“, wünschte er mir und trank gleich darauf sein Bierglas mit einem Schluck aus.
Als ob der Instinkt des Journalisten sprach und sagte, dass hier etwas nicht stimmte, dass der Junge eine Sorge hatte, die sich in seiner Brust wie ein Fadenknäuel wickelte. Ich schaute ihn an, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Dabei kam er mir mal wie ein reifer Mann und mal wie ein kleines Kind vor.
Ich begriff, dass er mir keine Antwort geben wollte und ich versuchte, nicht mehr seinen Verstand zu belasten.
Der Junge aß mit Eile und so, ohne zu sprechen, trank er auch das nächste Bierglas leer.
Er sagte zu mir, dass er nun seinen Freund von der Bundeswehr treffen müsse, zahlte den Kellner und ging fort.
In der Zeit, als er rausgegangen war, traf der Zeitungsmitarbeiter, Busch, ein. Ihm ging es mittlerweile ausgezeichnet: Er wurde zum Chef der Grünen ernannt und hatte dennoch einen teuren Dieselwagen, sodass wir uns öfters in Berlin trafen.
„Verzeih mir, es hat sich etwas in die Länge gezogen“, sagte er, „weil der Sekretär nach mir verlangte, hatte ich keine andere Wahl.“
Wir begannen mit dem gemeinsamen Gespräch. Busch hatte den Schatten eines Eminenten gewonnen. Ohne irgendeine Verbindung, während des Gesprächs, nannte er die Führungsreihen des Bezirks und den Ereignissen der Stadt hatte er irgendwie ein Kreuz vermacht. Das war ein Zeichen der Emanzipation, doch auf der anderen Seite, erkannte ich auch ein Rennen hinter den Ziffern, des Kollegen X und Y, her. Bei denen ich nichts besonders sehen konnte, außer dem Platz auf ihrem Stuhl. Rein zufällig hatte sich ergeben, solchen Parteimitgliedern der Politikebene zu begegnen und mit ihnen über unterschiedliche Probleme zu kommunizieren. Ich wusste wie viel Wert deren Haut hatte.
Jemand grüßte ihn und Busch antwortete mit der gleichen Geste. Doch zwischenzeitlich blieben seine Augen auf den Tisch am Fenster gerichtet.
„Den Tisch haben Mark und Flora für heute Abend reserviert.“, sagte Busch und erzählte mir, dass jetzt, wenn Mark Blumen auf den Tisch stellte, alle wussten, dass sie an diesem Abend dort essen werden.
„Sie leben wie an dem ersten Tag, als die Liebe stark gefunkt hatte.“, fügte Busch hinzu. „Obwohl sie sich an die bekanntesten Gynäkologen, sogar auch in Düsseldorf, wandten, blieben sie kinderlos.“, sagte er, überzeugt davon, dass ich die Geschichte frisch in meiner Erinnerung hatte, ebenso auch Frau Duden.
„Das tut mir leid.“
„Der ganzen Stadt tut es leid.“, vervollständigte er. „Wie sollst du es sagen: Es ist kaum möglich, zwei gute Dinge zusammen zu bringen. Mark hat nun die Stelle als Trainer des Fußballvereins und deren finanzielle Lage ist so berauschend gestaltet, dass man nur neidisch drum sein kann. Es wird behauptet, dass Frau Duden auch in Wien Reichtum besaß.“
Beide waren wir der gleichen Meinung, dass ihnen, Mark und Flora, der aller größte Reichtum fehlt: Ein Kind. Knapp eine Million hatte ihnen ein Einheimischer, aus Deutschland, für das Klavier angeboten. Seitdem Flora in das Haus gekommen war, wirkt es jünger, und keiner von denjenigen, die dort ein- und ausgingen, glaubten, dass es noch ein gepflegteres Haus in ganz W. gäbe. Den Garten hatten sie an einen bekannten Fruchtkünstler zur Pflege anvertraut und jetzt gleicht er einem botanischen Garten. Der Weg aber vom Eingangstor bis zur Haustreppe hin, bewahrte die Tradition der Frau Duden und war mit zahlreichen Blumen geschmückt. Bei der Selektion,