Der Weltenschreiber. Heike Schwender

Der Weltenschreiber - Heike Schwender


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wehte ein ungemütlicher Wind, den Sarah insgeheim begrüßte, da er dafür sorgte, dass sie den kleinen Park fast für sich hatte.

      Im geschäftigen Pariser Treiben fristete die unscheinbare grüne Oase ein Schattendasein. Sarah aber war das egal. Ihre Fantasie reichte aus, um sich aus dem kleinen Park einen natürlichen Rückzugsort zu basteln, in dem sie zusammen mit ihren Gedanken frei sein konnte. Den sie jetzt brauchte, um wieder mit ihren belastenden Überlegungen ins Reine zu kommen. So wurde aus dem lärmenden Verkehr, der sich mühsam unter der Brücke hindurchbewegte, die Sarah passieren musste, um in den Park zu gelangen, ein rauschender, lebendiger Fluss.

      Tief in Gedanken versunken überquerte die junge Frau den Fluss, der sich gnadenlos durch den pulsierenden Pariser Tag schlängelte, mithilfe der massiven Steinbrücke, die sich aufrecht über dem sich windenden Wasser hielt.

      Sarah musterte geistesabwesend den wolkenverhangenen Himmel. Obwohl noch nicht spät, schaffte es der grau bedeckte Tag, einen abendlichen Eindruck zu vermitteln.

      Sie betrat den Park. Ihr Blick wanderte über das hohe Gras, das den Fußweg zu beiden Seiten umgab. Obwohl erst Juni, war es kein frisches, helles Grün mehr. Diese Wiesen waren bereits einige Male abgemäht worden und hatten sich jedes Mal aufs Neue mühsam wieder aufrichten müssen. Ihre Erschöpfung und Verärgerung ob dieser Ungerechtigkeit des Lebens sah man den dunkelgrünen und braunen Gräsern an.

      Sarahs Gedanken spiegelten die grau verhangene und untätige Müdigkeit des Tages wider. Sie kämpfte innerlich mit dem dritten Notizzettel ihres Großvaters. Zuerst hatte sie den gar nicht aufhängen wollen. Aber irgendwie hatte sie doch das Bedürfnis dazu verspürt. Er gehörte nun einmal dazu. Genau wie die ersten beiden Blätter die kuriosen, zeitraubenden Studien ihres Großvaters wiedergaben, die Suche nach dem Gefangenen und die Frage nach der Existenz der Weltenschreiber, drückte der dritte Zettel das aus, was ihrem Großvater durch seine Studien verloren ging. Nein, berichtigte sich Sarah insgeheim, es ging ihm nicht verloren. Es war ganz allein seine Entscheidung gewesen. Er hatte sich dazu entschlossen, auf seine Familie, sein Leben, zu verzichten. Ihr, seiner Enkelin, hatte dieses dritte Blatt die meisten Schwierigkeiten bereitet. Denn es hatte die Frage aufgeworfen, was ihr Großvater eigentlich für ein Mensch gewesen war. Eigentlich war es erst dieses dritte Papier gewesen, das Sarah dazu verleitet hatte, die Zettel aus dem Archiv der Universitätsbibliothek zu entwenden und mit der Suche nach ihrem Großvater zu beginnen. Dabei standen auf dem Blatt Papier nur drei Worte:

       Liebe Marie, verzeih.

      Sarah hatte die Zettel zu spät gefunden. Ihre Großmutter war vor fünf Jahren gestorben und konnte ihrem Mann nicht mehr verzeihen. Ob sie dazu überhaupt in der Lage gewesen wäre, wusste Sarah nicht. Aber sie selbst, mit ihrer Distanz zu den Geschehnissen in der Vergangenheit, mit ihrer Sehnsucht nach einem Menschen, der ihr ähnlich war und der sie verstand, hatte beschlossen, ihrem Großvater zu verzeihen. Und ihn zu suchen.

      Unversehens sah sich Sarah aus ihrer Gedankenwelt gerissen. Die hohen Gräser, die sie blicklos angestarrt hatte, erwachten so plötzlich zum Leben, dass ihre ahnungslose Beobachterin erschrocken zusammenfuhr. Ein Flügelpaar, dann das nächste. Und auf einmal hatten sich wie auf Kommando hunderte Vögel aus dem hohen Gras erhoben und flatterten wie eine einzige riesige Wolke aus kleinen befiederten Körpern über das Land. Zogen kreischend ein paar Kreise und landeten in wortloser Übereinkunft nur ein paar Meter von ihrem vorherigen Startplatz entfernt.

      Sie verschwanden so plötzlich zwischen den grünen Halmen, wie sie zuvor aufgetaucht waren. Sarah stand da und starrte auf die nun wieder leblos daliegende Landschaft – den Fußweg gesäumt von braun-grünen Frühsommerwiesen.

      Aber sie ließ sich nun nicht mehr täuschen. Der ihr gegönnte Blick hinter die Kulissen hatte ihr gezeigt, dass diese Landschaft keineswegs so leblos war, wie sie es den eilig vorbeigehenden Menschen weismachen wollte. Nichts war so, wie es schien.

      Als Sarah in ihre Wohnung zurückkehrte, hatte sie zwar noch immer keine Ahnung, wie ihre Suche weitergehen sollte, aber sie hatte ihre Gedanken wieder unter Kontrolle. Und sie war vernünftig genug, mit sich selbst einen Kompromiss zu schließen. Nach den Hinweisen der vergangenen Nacht würde sie die Suche nach ihrem Großvater doch noch nicht aufgeben. Aber sich selbst aufgeben würde sie auch nicht. Sie wollte, dass ihr Leben wieder in geordneten Bahnen verlief. Sie musste sich darüber klar werden, wie ihre Zukunft aussehen sollte. Welcher Arbeit sie nachgehen wollte. Was sie dann in ihrer Freizeit trieb, war allein ihre Sache. Und wenn sie – statt joggen zu gehen oder sich mit Freunden auf ein Eis zu treffen – lieber in alten Büchern seltsamen Hinweisen über den Verbleib ihres Großvaters nachjagte, dann war das ihre Entscheidung und ging niemanden etwas an.

      Zufrieden mit sich selbst und ihrem vernünftigen Kompromiss, machte sich Sarah sogar daran, die Küche in ihrer kleinen Mansardenwohnung aufzuräumen. Sie war gerade dabei, ein paar überaus unappetitliche Essensreste zu entsorgen, als es an ihrer Wohnungstür klingelte.

       //Es hatte einen Weg gefunden. Zumindest glaubte es das. Sein Geist war nicht mehr so zuverlässig wie einst. Dinge, Gefühle, Worte die es gestern noch kannte, hatte es heute vergessen. Alles floss ineinander, vermischte sich und trennte sich anders, als es ursprünglich gewesen war. Worte verbanden sich, die nichts miteinander zu tun hatten. Sätze tauschten ihren Platz ohne Rücksicht auf den sich dadurch verändernden Inhalt zu nehmen. Schwierig, in einem solchen Zustand seine Sinne beisammen zu halten und nach einer Möglichkeit zu suchen, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Schwierig. Aber nun hatte es einen Weg gefunden. Zumindest glaubte es das.//

      Kapitel 9

      Sie brauchten mehr Zeit für die Suche im Archiv, als Matthew erwartet hatte. Anscheinend hatte ein André Dupoit mehrere Jahre für Le Mercure geschrieben und sie mussten sich durch dutzende Seiten arbeiten, auf denen seine Artikel als Ergebnis angezeigt wurden.

      Der Regen hatte inzwischen an Kraft verloren und sich in ein sanftes Nieseln verwandelt. Dafür vertrieb jetzt ein kalter Wind auch die letzten Passanten aus den engen Gassen. Matthew und Monsieur Dupoit saßen alleine in dem Café. Die junge Frau hinter dem Tresen war in ein Buch vertieft und sah höchstens auf, um nach einem Keks aus der Packung neben ihr zu greifen.

      Auf Seite 72 angekommen, fanden sie endlich, wonach sie suchten. Matthew führte den Mauszeiger über das Suchergebnis und es erschien ein kurzer Text vom 17. Juni 1982. Eine Vermisstenmeldung der Polizei, erst fünf Wochen nach Dupoits Verschwinden gedruckt, die aber keinerlei Hinweis auf seine Familie enthielt.

      Dupoit seufzte und rieb sich die Augen, unter denen sich dunkle Schatten abzeichneten.

      »Ich habe damals nicht einmal realisiert, dass sie auszogen, so vertieft war ich in meine Suche.« Er deutete auf den Bildschirm. »Denken Sie, dass wir noch etwas anderes finden können? Einen weiteren Artikel aus einer späteren Ausgabe vielleicht?«

      Matthew hatte eigentlich längst die Hoffnung aufgegeben, aber ihnen blieb im Grunde nichts anderes übrig. Er blätterte weiter durch die Seiten. Zumindest im Moment mangelte es ihm an weiteren Ideen, was er auf die Müdigkeit schob. Wie lange hatte er nicht mehr richtig entspannt geschlafen? Zwei Monate? Sein Schlaf war schon seit geraumer Zeit nur noch ein unruhiges Dösen, durchsetzt mit wirren Träumen. Wenn er im Bett lag und durch das Fenster in den Nachthimmel blickte, spürte er oft, wie er rasch in Richtung Schlaf sank, manchmal so schnell, dass er das Gefühl hatte zu fallen. An der Schwelle des Schlafes trieben dann seltsame Gedanken durch seinen Geist, so schwer zu fassen wie Bilder im Augenwinkel. Sie schienen so lange ganz natürlich und vollkommen logisch zu sein, bis er versuchte, sich auf sie zu konzentrieren; dann zerplatzten sie und er blieb verwirrt zurück. Verwirrt, aber wieder hellwach. Wann hatte das angefangen?

      Und dann wurde Matthews Aufmerksamkeit schlagartig wieder auf den Bildschirm gelenkt, auf dem eine Meldung von vor fünf Jahren erschienen war. Er spürte sein Herz im Hals pulsieren und die Finger seiner rechten Hand umklammerten die Maus unwillkürlich fester. Das Geräusch des Regens verstummte mit einem Mal für seine Ohren, aber der Wind schien nun umso lauter zu sein. Er hatte eine Traueranzeige für Marie Dupoit gefunden.

      Matthew


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