Der Weltenschreiber. Heike Schwender

Der Weltenschreiber - Heike Schwender


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hin und öffnet das Kartenbuch auf der vorletzten Seite. Ja, er ist am richtigen Ort, daran hat er keinen Zweifel. In der Ebene, vielleicht fünfhundert Meter entfernt, erkennt er die drei Bäume. Weit ab zu seiner Linken schlängelt sich der Fluss aus Richtung des Gebirges im Norden kommend; auf einer kleinen Insel im Wasser sieht er einen schwarzen Obelisken stehen.

      Er hebt das Buch und fährt die Linien auf der vergilbten Seite mit seinem Finger nach. Obelisk, Fluss, Bäume. Die ersten zweiunddreißig Seiten des Buches sind alt und fleckig, aber bestehen eindeutig aus Papier. Nicht so dieses letzte Blatt. Es ist Pergament. Vielleicht hat jemand es zugeschnitten, um es der Größe der anderen Blätter anzupassen, aber Dupoit ist überzeugt, dass es genau andersherum ist, dass vielmehr die anderen Seiten angepasst wurden, dass das Buch in seiner Gesamtheit gewissermaßen um dieses Pergament herum gebaut wurde. Sein Finger bleibt in der Mitte der Seite stehen. Hier ist der Hügel verzeichnet und im Zentrum des Kreises formen die Buchstaben in einer ungleichmäßigen Capitalis Quadrata ein Wort: Lutetia. Darunter hat ein anderer Schreiber in einer schwungvollen, fließenden Kursive eine Anmerkung gesetzt: La Ville Lumière. Dupoit erinnert sich, dass dieser Name jung ist, noch keine zweihundert Jahre alt. Gemessen an dieser Welt kann es noch nicht lange her sein, dass jemand diese Wörter hinzugefügt hat. Wessen Buch hält er hier?

       Er hebt den Kopf und blickt noch einmal über die Ebene unter ihm. Seine Finger zittern, als er nach der Ecke der Seite greift, um sie umzublättern. In dem Augenblick, als er das raue Pergament anhebt, frischt der Wind plötzlich auf, und als er halb umgeblättert hat, nimmt er ein dumpfes Grollen wahr. Durch das Grasland unter ihm scheint eine Welle zu laufen, das Land hebt sich und mit einem Mal bricht die Welt vor ihm einfach weg und fällt in die Tiefe. Erstarrt steht Dupoit auf der Kuppe eines nur noch halben Hügels und betrachtet zwischen seinen Füßen hindurch den Sternenhimmel unter ihm.

       Aber es verändert sich auch der Boden, der ihm noch geblieben ist. Das Gras und der weiße Stein des Weges werden dunkler und verfärben sich braun, so als ob unter ihnen eine Flamme brennt. Feine Risse durchziehen die Erde zwischen den Halmen. Als wieder das tiefe Grollen ertönt, wie von einem nahenden Gewitter, überkommt ihn Furcht. Aber dann versteht er, was hier passiert. Die eben noch frische Nachtluft nimmt einen vertrauten Geruch an – den Geruch alter Bücher, wie er ihn aus den hintersten Regalen unzähliger Bibliotheken kennt.

      Es ist das Pergament. Ich stehe auf dem Pergament.

       In diesem Augenblick ist er überzeugt, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hat. Bald wird er zu Hause sein.

       Wieder blickt er nach unten, als sich der Boden in einer rollenden Bewegung hebt und ihn in einem weiten Bogen von der Seite wirft, kopfüber in das Firmament taumelnd.

      Kapitel 11

      Sarah stand in ihrer kleinen Küche und lauschte dem ungewohnten Klang der Türglocke hinterher. In der einen Hand hielt sie eine Mülltüte und in der anderen einen großen weißen Teller, den sie gerade erst von einigen undefinierbaren Überbleibseln befreit hatte. Das helle Geräusch war längst verklungen, aber Sarah brauchte einen Moment, um überhaupt zu begreifen, wo der Ton hergekommen war. Dass sie jemand in ihrer Wohnung besucht hatte, war schon sehr lange her. Ein Leben lang. Sarah seufzte und stellte Mülltüte und Teller beiseite. Dann würde sie eben mal nachsehen, wer da aus einer anderen Zeit vor ihrer Tür auftauchte.

      Auf ihrem Weg durch den Flur ertönte die Türklingel ein zweites Mal. Sarah zuckte unwillkürlich zusammen. So laut war das nervige Ding also, wenn man direkt davorstand! Um einer weiteren Ruhestörung zuvorzukommen, legte sie die letzten beiden Schritte schneller zurück und riss die Wohnungstür auf, ohne weiter über die ungewöhnliche Einmischung in ihr Einsiedlerdasein nachzudenken.

      Vor der Tür stand eine kleine ältere Dame, eingehüllt in einen dunkelbraunen Mantel, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Auf dem Kopf trug sie einen rundlichen braunen Hut. Damit wirkte sie noch kleiner, als sie es sowieso schon war. Von Sarahs stürmischem Auftritt überrascht, wich die Frau erschrocken einen hastigen Schritt zurück, wobei sich ihre schwarzen Schnallenschuhe beinahe in dem grünen Fußabtreter verheddert hätten, der Sarahs Eingangstür schmückte.

      Sarah musterte die ältere Frau, konnte sie aber beim besten Willen nicht einordnen. Falls sie diese Dame schon einmal gesehen hatte, dann sicherlich in einem Moment, in dem sie nicht wirklich am Leben teilgenommen hatte. Vielleicht war sie gerade dabei gewesen, ein Buch zu lesen. Das war zumindest sehr gut möglich. Ein kleines Lächeln machte sich bei diesem Gedanken auf Sarahs Lippen breit. Derart ermutigt entschloss sich die kleine ältere Dame zu einem Frontalangriff.

      »Ich möchte zu Marie-Belle«, forderte sie mit hoher, aber nichtsdestotrotz entschlossener Stimme. Sarahs Lächeln verschwand, während sich ihre Augenbrauen verwirrt zusammenzogen. »Zu wem?«

      Die Frau vor der Tür musterte sie aus verwaschenen blauen Augen mit einem Ausdruck, der Sarah klar machte, dass sie sich selbst mit dieser dämlichen Frage ins Abseits gespielt hatte. Schluss mit dem Überraschungsangriff, den sie mit ihrem stürmischen Auftreten in der Tür eröffnet hatte.

      »Zu Marie-Belle!« Der herablassende Tonfall wurde durch die hohe Stimme noch verstärkt.

      Sarah öffnete schon den Mund, um ein weiteres Mal ihr Unverständnis kundzutun, als ihr Gedächtnis auf eine Episode aus der Vergangenheit stieß. Ach was – Vergangenheit! Etwa zwei Wochen war es her, dass sie im Treppenhaus beinahe mit einer Nachbarin zusammengestoßen war.

      Sarah erinnerte sich dunkel an eine ebenfalls recht kleine Person, die mit zwei braunen Einkaufstüten beladen gewesen war, die ihr komplett die Sicht versperrten. Eigentlich erinnerte sie sich nur an die beiden braunen Tüten und an Beine, die unter ihnen hervorlugten. Die Tüten waren auf dem Weg nach unten gewesen, während Sarah von eben dort kam. Ihre eigene Entschuldigung dafür, dass sie von dem nahenden Unheil nichts mitbekommen hatte, war – wie sollte es anders sein – ein Buch, das sie aus ihrem Briefkasten geholt hatte. Ungeduldig wie sie war, hatte sie es bereits auf dem Weg nach oben zu ihrer Wohnung aus seinem Kartongefängnis befreit und angefangen, in ihm zu blättern. Dass sie beide – ihre Nachbarin und sie selbst – vor dem unvermeidlichen Zusammenprall gerettet worden waren, hatten sie einem älteren Mann zu verdanken, der die Gefahr erkannt und sich daraufhin heldenhaft von oben über die Brüstung gelehnt hatte. Der tiefe, rauchige Warnruf hatte nicht nur die Einkaufstütenbeine zum Halten gebracht, sondern auch Sarah gerade noch rechtzeitig aus ihrem Buch gerissen und zurück in die Welt mit all ihren anderen Menschen und Gefahren katapultiert. Die heisere Stimme des Mannes hatte nur den Namen der Frau hinter den Tüten gerufen: »Marie-Belle…!«

      Sarah lächelte. Und schon war das Rätsel gelöst. Natürlich konnte sie die kleine Frau, die da vor ihrer Wohnungstür stand, nirgendwo einordnen. Sie hatte sie noch nie zuvor gesehen! Sarah spürte, wie ihre Überlegenheit zurückkehrte. Neuer Angriff, Schuss und Tor!

      Mit einem überaus freundlichen Lächeln schüttelte sie also den Kopf und erklärte der verirrten Besucherin, dass sie es an einer anderen Tür probieren müsse. Ohne abzuwarten, ob die Dame ihr auch Glauben schenkte, schloss Sarah die Wohnungstür und kehrte zurück in ihre Küche und zu der unangenehmen Aufgabe, die sie dort noch immer erwartete.

      *

      Der frühabendliche Verkehr hatte sich nur als halb so schlimm herausgestellt wie ursprünglich erwartet – was in Matthews Augen immer noch übel genug war. Sie ließen sich vom Taxifahrer am Eingang zur Rue de Grenelle absetzen. Matthew hielt es für eine gute Idee, noch ein paar Meter zu laufen, bevor sie endlich das Haus betreten würden. Er hoffte, dass die Frau überhaupt in ihrer Wohnung war. Und insgeheim hoffte er auch, dass sie Kaffee hatte.

      Sie gingen zwischen den hoch aufragenden Häusern entlang. Die Straße war schmal und auf der gegenüberliegenden Seite parkte eine lange Reihe Autos. Nur wenige Menschen waren unterwegs; vereinzelt standen zwei oder drei Leute vor den Eingängen von Geschäften zusammen und unterhielten sich, aber der kalte scharfe Wind zwischen den Gebäuden lud nicht unbedingt zu Spaziergängen ein.

      Dann hatten sie die richtige


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