Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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Sie lassen sich grob in biologische, chemische, physikalische und psychische Faktoren einteilen.

      Der schwer nachzuweisende Zusammenhang zwischen „unsichtbaren“ Expositionen und deren Wirkung auf die Zellgesundheit ist von Interesse für das Verständnis von multisystemischen Erkrankungen: Welchen Anteil haben unterschwellige Umweltfaktoren an deren Entstehung?

      Ein Beispiel für Faktoren, die wir nicht wahrnehmen können, sind Viren. Viren blieben lange unentdeckt, weil sie nur aus einem DNA oder RNA-Faden, z.T. mit Proteinhülle, bestehen. Biologen schätzen, dass zehnmal mehr Viren als Bakterien in und auf unserem Organismus zu finden sind. Manche dieser Viren verursachen Erkrankungen, andere koexistieren mit uns oder wurden sogar Teil unserer DNA. Viren gehören zu den Faktoren, die – ebenso wie Rauch, Pflanzen- und Tiergifte oder Bakterien – unsere Menschheitsgeschichte schon lange begleiten. COVID-19 lehrt uns, dass Viren Meister in der feindlichen Übernahme unserer Zellsysteme sind.

Neuartige Stressoren/NoxenAbgase, Radioaktivität und Mikroplastik sind Beispiele für neuartige Stressoren. Wir können sie nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken. Unsere Sinne warnen uns nicht vor diesen potenziellen Gefährdungen.Fachsprachlich wird im Gesundheitswesen jede Art von Substanz, die potenziell schädlich wirken könnte, als „Noxe“ bezeichnet.

      3.2.1 „Novel entities“ – Neuartige Substanzen

      Internationale Wissenschaftler um den schwedischen Professor Johan Rockström veröffentlichten erstmals 2009 das Konzept der „Planetaren Grenzen“. 3.2.1/1 Steffen et al. Sie benannten neun globale Prozesse, die das Gleichgewicht unserer Erde bedrohen. Einer dieser globalen Prozesse betrifft anthropogene Stoffeinträge, das sind von Menschen durch moderne Technologien neu geschaffene und in die Umwelt eingebrachte Substanzen und Emissionen. Diese Substanzen wurden in der Studie unter dem englischen Begriff „novel entities“ (Deutsch: „Neue/Neuartige Stoffe/Substanzen“) zusammengefasst.

      Abb. 3.2.1/1 Belastung vorindustriell und heute

      Dazu gehören

       sämtliche durch menschliches Handeln erzeugte neue Substanzen, wie z. B. synthetische organische Schadstoffe/Chemikalien (Xenobiotika) inklusive Nanomaterialien und Mikrokunststoffe oder radioaktive Materialien.

       Natürlich vorkommende Elemente (z. B. Schwermetalle), die durch anthropogene Aktivitäten quantitativ zunehmen, sowie modifizierte Lebensformen, (wie genetisch veränderte Organismen oder Produkte der synthetischen Biologie) die das Potenzial für unerwünschte geophysikalische und/oder biologische Wirkungen haben.

      Die globale Einführung der novel entities in die Umwelt ist sowohl aus umweltpolitischer wie auch aus medizinischer Sicht besorgniserregend:

      1 Weil diese Substanzen persistierend sind, d.h. sie verbleiben über unabsehbar lange Zeiträume in der Umwelt.

      2 Sie sind über große Distanzen wie Klimazonen oder Kontinente hinweg mobil und entsprechend weit verbreitet. Wir sehen das z. B. in Funden von Mikroplastik im arktischen Eis.

      3 Zum dritten haben Novel entities Auswirkungen sowohl auf lebenswichtige Prozesse im „System Erde“, wie auch auf lebenswichtige Prozesse im Organismus von Tier und Mensch.

Die novel entities haben das Potential, unerwünschte geophysikalische oder biologische Effekte im System Erde auszulösen und gleichzeitig ebenso unerwünschte Effekte im menschlichen Organismus zu bewirken – die Folgen sind hier wie da potenziell irreversibel.

      Gefährlichkeitsprofile der neuen Substanzen

      Wir befinden uns mitten in einem Freisetzungs-Experiment mit globalen Auswirkungen. Von einem regelhaft durchgeführten Screening neuartiger Substanzen, bevor sie in die Umwelt freigesetzt werden, sind wir derzeit weit entfernt. Potenziell gefährliche Strahlen, Substanzen und Gase begleiten uns durch den Alltag und sind behördlich zugelassen – doch die gesundheitlichen Risiken sind unabsehbar.

      Späte Lehren aus frühen Warnungen

      Im Jahr 2001 veröffentlichte die Europäische Umweltagentur/EUA den Bericht Late lessons from early warnings: Environmental issue report No 22 01/2002. Unter dem Titel „Späte Lehren aus frühen Warnungen: Das Vorsorgeprinzip 1896–2000“ publizierte das Umweltbundesamt 2004 die deutsche Übersetzung. Untersucht wurden die Vorsorgekonzepte und die Risikobewertung, bzw. das Risikomanagement der vergangenen hundert Jahre in Bezug auf die Gesundheit der Bevölkerung und auf die Umweltsituation in Europa.

      Abb. 3.2.1/2 Die Komplexität toxischer Wirkungen

      Die wenigsten neuartigen Substanzen werden hinsichtlich ihrer Toxizität untersucht, geschweige denn auf Faktoren wie Wechselwirkungen oder Kumulationseffekte. Zusätzlich wird die Beurteilung erschwert, weil jeder Mensch über individuelle Entgiftungsleistungen verfügt. } Siehe Kapitel 22

Zwölf „späte Lehren“ wurden von den Autoren unter Federführung des wissenschaftlichen Beirats der EUA aus den vorgestellten zwölf Fallberichten abgeleitet, bei denen in jedem Fall klare Beweise für die Gefährdung der Bevölkerung und deren Umwelt zunächst ignoriert wurden. Thematisiert wurden u.a.: Strahlung (Röntgen, Radioaktivität), Benzol, Asbest, PCB und FCKW.

      Bei allen Problemfeldern gab es nach den ersten Hinweisen jahrzehntelange wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskussion. Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW), wurden beispielsweise so lange als harmlos abgetan, bis die Schäden in Zusammenhang mit der stratosphärischen Ozonschicht nicht mehr geleugnet werden konnten.

Die Politik reagierte bei vielen Themen zu zögerlich, war offen für Lobbyinteressen und reagierte erst spät mit Vermarktungsverboten.

      Die so entstandenen gesellschaftlichen Folgekosten überstiegen die Gewinne der Hersteller der gefährlichen Güter bei weitem. Das führte nicht nur zu horrenden wirtschaftlichen Schäden für die Volkswirtschaften, sondern vor allem auch zu gesundheitlichen und sozialen Folgen.

Die Risiken der scheinbar so nützlichen Technologien blieben so lange unbeachtet, bis die unumkehrbaren Folgen nicht mehr zu stoppen waren.

      Erlaubt = ungefährlich?

      Bei Asbest war die Latenzzeit zwischen dem ersten Auftreten der Belastung und der Eindämmung der Produktion so lang, dass viel zu viele Menschen an asbestbedingtem Lungen- oder Rippenfellkrebs erkrankten. Auch das Beispiel DDT zeigt, wie langsam die Mühlen mahlen, wenn es um gesundheitsschädliche Gefahren von Chemikalien geht: DDT wurde 1942 unter dem Handelsnamen „Gesarol“ als Mittel zum Pflanzenschutz und als „Neocid“ für den Hygienebereich auf den Markt gebracht und war über Jahrzehnte hinweg das am häufigsten verwendete Insektizid weltweit. Mitte der 1950er-Jahre wurde die schädigende Wirkung von DDT auf Vögel, Fische und Amphibien bekannt. Das Insektizid wurde in den Siebzigerjahren erst in Schweden, dann in Dänemark, in den USA und in Deutschland (1. Juli 1977) verboten.

Die Verwendung des gesundheitsschädlichen DDT war also 35 Jahre lang erlaubt.

      Die Substanz wird nicht abgebaut: Noch heute ist das Insektenschutzmittel in Umweltsedimenten und damit im Rohstoffkreislauf zu finden. Heute wissen wir, dass DDT sich im menschlichen Organismus ansammelt und in den Hormonhaushalt eingreift. DDT wird über Generationen weitergegeben. Bei Schwangeren gelangt es über Plazenta und Nabelschnur in hohen Konzentrationen auch in den Embryo, was zu Fehlbildungen führen kann. Auch in der Muttermilch ließen sich DDT und seine chemischen Abkömmlinge nachweisen.

Das Beispiel zeigt exemplarisch, dass „erlaubt“ keinesfalls mit „unbedenklich“ gleichzusetzen ist. Die Umwelt- und Gesundheitskosten durch DDT werden am Ende nicht von den Verursachern bezahlt, sondern von der Gesellschaft, bzw. von den betroffenen Menschen, die durch DDT zu Patienten
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