Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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vorgesehen war, ist heute Alltag. Unsere arhythmische, überaktive Lebensweise fördert Fehlfunktionen. Wir sind ausgestattet mit einem seit Jahrtausenden bewährten, aber „altmodischen“ Stresshormonsystem. Ohne Regenerationszeiten verbleiben die Stresshormone zu lange im Körper, sie werden nicht angemessen abgebaut. Die Widerstandsphase ist verbunden mit Hyper-Cortisol, einem anhaltenden, durch den Sympathikus bedingten Erregungszustand und gleichzeitiger Erschöpfung. Diese Phase kann Monate oder Jahre anhalten. Unter solchen Bedingungen geht auf Dauer die Anpassungsfähigkeit verloren.

      Der Organismus ist jetzt dauerhaft einer zu hohen Glucocorticoid-Konzentration ausgesetzt. Die Sensitivität der Glucocorticoid-Rezeptoren kann deshalb abnehmen (Glucocorticoid-Resistenz). Langfristig verringern die erschöpften Nebennieren die Cortisol-Ausschüttung (} Hypo-Cortisolismus). Die Aktivität der Stressachsen ist gestört, die Rezeptoren reagieren nicht mehr auf Cortisol – der Organismus ist jetzt nicht mehr in der Lage, die stressbedingte Entzündungsreaktion herunterzufahren.

Dauerstress erhöht die Anfälligkeit für Infektionen und reduziert zudem fatalerweise die Abwehrbereitschaft.

      Die Stress-Studie 2016 der Techniker Krankenkasse mit dem Titel Bleib locker, Deutschland zeigte: Fast sechs von zehn Deutschen empfanden ihr Leben als stressig – jeder fünfte stand unter Dauerdruck. Mehr als jeder zweite Deutsche hatte das Gefühl, dass sein Leben in den letzten drei Jahren stressiger geworden war.

      Die Nebennieren

      Die Nebennieren sind zwei walnussgroße Drüsen, die huckepack wie kleine Kappen auf beiden Nieren sitzen. Funktionell haben die Nebennieren mit der Funktion der Nieren nichts zu tun. Die Aufgabe der Nebennieren ist es, lebenswichtige Hormone zu bilden. Eine Nebenniere ist circa 4 cm lang, 4 cm dick und ungefähr 2 cm breit, sie wiegt nicht mehr als eine Weintraube (ca. 5 bis 15 Gramm). Man unterscheidet zwischen Rinde und Mark, die Rinde ist wiederum in drei Zonen mit unterschiedlichen Aufgaben unterteilt.

      Das Nebennierenmark macht ca. 20 % der Nebenniere aus – also nur federleichte 1–3 Gramm! Es ist das Zielorgan, bei dem sämtliche Situationen ankommen, die uns herausfordern und denen wir uns anpassen müssen. Vom Nebennierenmark wird als Stressreaktion unverzüglich Adrenalin und Noradrenalin ausgestoßen, die für die „Kampf oder Flucht“-Reaktion verantwortlich sind.

      Der äußere Bereich, die Nebennierenrinde, macht 80 % der Nebenniere aus und ist für die Produktion von über 50 verschiedenen Steroid-Hormonen in drei Hauptkategorien verantwortlich: die Glucocortcoide, die Mineralkorticoide und die Sexualhormone (Androgene).

      Dauerstress blockiert Hormonwege

      Die Cortisol-Netzwerk-Achse ist die Lebensretter-Achse, denn sie sichert in gefährlichen Situationen unser Überleben. Cortisol dominiert daher die anderen Hormon-Ausschüttungen der Nebenniere, die über den Hypothalamus miteinander vernetzt sind. Bei permanenter Stressaktivierung ohne Erholungszeiten können sich die Nebennieren kaum mehr regenerieren.

      Pregnenolon ist die Vorläufer-Substanz für die Produktion von mehr als 150 Steroidhormonen. Die Substanz wird daher auch als „die Mutter aller Steroide“ bezeichnet. Bei überschießender Cortisol-Produktion wird die Basissubstanz Pregnenolon verbraucht und steht z. B. für die Bildung der Geschlechtshormone Testosteron und Östrogen oder für Wachstumshormone wie DHEA als Vorläufersubstanz nicht mehr zur Verfügung. Das hat weitreichende Folgen für die Gesundheit und für die Lebensqualität. Der Mangel an Sexualhormonen kann bei Frauen zu stressbedingten Beschwerden wie Brustspannen (Mastodynie), zu Zyklus-Unregelmäßigkeiten, zu Menstruations- und Wechseljahresbeschwerden, zum Ausbleiben des Zyklus, zu Störung der Empfängnisfähigkeit führen. Bei Schwangerschaft ist das Risiko einer Frühgeburt erhöht. Bei Männern kann es zu Störungen des sexuellen Antriebs und der Zeugungsfähigkeit oder zu Erektionsschwierigkeiten kommen. DHEA ist ein Gegenspieler zu Cortisol und wird auch als „Jungbrunnen-Hormon“ bezeichnet. Das Hormon beeinflusst den Energieverbrauch und den Alterungsprozess. Auch DHEA ist wiederum eine „Muttersubstanz“ für viele andere Hormone. Potenziert wird ein möglicher Hormonmangel durch Fehlernährung, chronische Infektionen, Schwermetalle sowie weitere Stressoren.

      Manche Steroide werden für Doping verwendet, um leistungsfähiger und ausdauernder zu werden. Die Nebenwirkungen können jedoch erheblich bis tödlich sein. Glucocortcoide, z. B. Hydrokortison, sind andererseits lebenswichtige Medikamente. Der Wirkstoff Dexamethason wird seit September 2020 von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA bei schweren COVID-19-verläufen empfohlen.

      Die Nebennieren sind stresssensibel

      Prinzipiell können alle Arten von Stressoren als Auslöser oder als Verstärker die Nebennieren schwächen. Eine reversible Funktionsschwäche der Nebennieren tritt z. B. auf, wenn dauerhafte Anspannung/Belastung nicht mehr durch Entspannung ausgeglichen werden kann. Oftmals überlagern sich jedoch auch unterschiedliche Belastungen. Besonders häufig sind Infektionen mit Borreliose, mit dem Eppstein-Barr-Virus, Herpes simplex oder mit dem Zoster Virus an der Entstehung einer Nebennieren-Unterfunktion beteiligt. Auch Funktionsstörungen des Darms, Entzündungen oder Schwermetallbelastungen schwächen die sensiblen Organe.

      Mit einem Speichel-Hormontest kann zuverlässig der Status der Stress-Hormone erfasst werden. Laboradressen finden Sie auf den Serviceseiten.

      3. Die Erschöpfungsphase

      „Sei nicht frevelhaft gegen deinen Körper, indem du mehr von ihm verlangst, als er zu leisten vermag.“ Sebastian Kneipp

      In der Erschöpfungsphase kommt es zur zentralen Blockade der Anpassungs-Reaktionen und zu einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Regulationsstarre. Die überforderten Kompensations-Mechanismen zerbrechen.

Unsere fragilen (Stress-)Hormondrüsen, die alle gemeinsam gerade einmal das Gewicht eines Standardbriefes (nur etwa 20 Gramm!) auf die Waage bringen, sind der heutigen Dauerbeanspruchung nicht gewachsen. Genau die lebenswichtigen Organe, die uns in einer akuten Stress-Situation das Überleben sichern, werden durch das permanente Trommelfeuer des heutigen Alltags gefährdet.

      Die erschöpften Stress-Achsen: Cortisolmangel (Hypo-Cortisolismus)

      In der Widerstandsphase wird mehr Cortisol produziert, um den Dauerstress zu bewältigen. Die Nebennieren verausgaben sich und geraten deshalb in der Erschöpfungsphase in einen bedauernswerten Zustand. Im englischsprachigen Sprachraum spricht man von „Adrenal Fatigue“, im deutschsprachigen Raum von sekundärer Nebennierenrinden- oder -mark-Insuffizienz. Im Ärztealltag wird nur der extreme Cortisol-Mangel (Morbus Addison), bzw. der extreme Cortisol-Überschuss (Morbus Cushing) als pathologisch bewertet.

      Die individuelle Stressresistenz

      Wir reagieren individuell sehr unterschiedlich auf Stress: Es gibt Menschen, die über Jahrzehnte in der Widerstandsphase verbleiben, andere werden schon durch scheinbar unbedeutende Stressfaktoren dauerhaft aus der Bahn geworfen. Wieder andere erleben abwechselnd Widerstands- und Erschöpfungsphasen, bei manchen lässt die Stressresistenz über lange Zeiträume allmählich nach.

      Biologische Parameter

      Dass Personen unterschiedlich empfindlich auf Stressreize reagieren, hängt auch stark von biologischen Parametern ab, z. B. von der Aktivität des sogenannten Glucocortcoid-Rezeptors. Er nimmt eine Schlüsselfunktion in der Feedback-Regulation der Stressantwort ein, weil er die vielfältigen Botschaften des Cortisols in die Zelle weitergibt. Die Sensitivität dieses Rezeptors kann (wie bei den Beta-2-Rezeptoren) aufgrund genetischer Varianten, aber auch durch (embryonale, frühkindliche oder spätere) Umwelteinflüsse gesteigert oder vermindert (Glucocorticoid-Resistenz) sein.

      Abb. 3.1.3/1 Die individuelle Stress-Resistenz/-Toleranz

      3.1.4 Das Burnout-Syndrom

      In der Erschöpfungsphase gelingt es den Nebennieren kaum noch, ausreichend Cortisol zu produzieren, es entsteht ein Mangel (Hypo-Cortisol). Cortisol wird nachts gebildet, die Werte sind bei Gesunden frühmorgens am höchsten – unter Dauerstress sind


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