Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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beschränken – das wäre fahrlässig.

      Für multisystemisch erkrankte Patienten stimmt das reale Erleben ihrer vielfältigen Beschwerden überwiegend nicht mit dem psychotherapeutischen, bzw. biopsychosozialen Ansatz überein. Die Folge: Diesen Patienten wird mangelnde Kooperation vorgeworfen. Das Beharren der Patienten auf körperlichen Ursachen wird als weitere Bestätigung der Einordnung als psychisch bedingte Störung interpretiert. } Siehe Kapitel 31

      Abb. 2.5.2/1 Biopsychosoziale Sichtweise versus komplexmedizinisches Verständnis

      Die biopsychosoziale Sichtweise und das komplexmedizinische Verständnis entfernen sich diametral voneinander, sofern die biopsychosoziale Sichtweise darauf beharrt, dass im Rahmen der haus- und fachärztlichen Routine-Untersuchungen keine organischen Ursachen für die EmKE-typischen Beschwerden gefunden worden seien und daher eine biopsychosoziale Behandlung ausreichend sei.

      Aus Sicht der Systemischen Epimedizin sind weitergehende komplexmedizinische Untersuchungen, z.B. auf subklinische Entzündung/Silent Inflammation sowie auf neurologische, endokrine und weitere immunologische Fehlsteuerungen notwendig. Diese bleiben bei einer ausschließlich biopsychosozialen Diagnostik und Behandlung auf Basis eines „psychoneurobehavioralen“ Erklärungsmodells verborgen – und werden folglich nicht behandelt.

      Dualismus ist das herrschende Prinzip derzeitiger Medizin

      Thure von Uexküll (1908–2004) prägte die Begriffe „Medizin für seelenlose Körper“ und „Medizin für körperlose Seelen“. Auch wenn diese Unterteilung von vielen Behandlern im Alltag durchbrochen wird – sie ist noch immer das wirkende Grundprinzip unserer Gesundheits-Versorgung.

       Haus- und Fachärzte untersuchen und behandeln vor allem körperliche Ursachen von Beschwerden und Krankheiten. Die Diagnosefindung beruht im Wesentlichen auf den objektiven Parametern der Standardversorgung.Patienten ohne organischen Befund wird häufig empfohlen, sich psychotherapeutisch behandeln zu lassen.

       Psychosomatiker, bzw. Psychotherapeuten, Psychologen oder Psychiater untersuchen und behandeln das Erleben und Verhalten, z. B. Kindheitsprobleme, familiäre Spannungen, psychosoziale Belastungen, innere Konflikte. Die Diagnosefindung beruht auf Interviews, Fragebogen, Selbstbeschreibungen, Verhaltensbeobachtung oder Zeichnungen. Diese Erhebungen müssen interpretiert werden und sind damit immer subjektiv. Ergänzende objektive komplexmedizinische Laborparameter, die über die Regelversorgung hinausgehen, werden üblicherweise nicht erhoben.

      Psychische Erkrankungen nehmen stark zu

      „In Deutschland sind jedes Jahr etwa 27,8 % der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das entspricht rund 17,8 Millionen betroffenen Personen, von denen pro Jahr nur 18,9 % Kontakt zu Leistungsanbietern aufnehmen. Zu den häufigsten Erkrankungen zählen Angststörungen (15,4 %), gefolgt von affektiven Störungen (9,8 %, unipolare Depression allein 8,2 %) und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum (5,7 %).

      Psychische Erkrankungen zählen in Deutschland nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bösartigen Neubildungen und muskuloskelettalen Erkrankungen zu den vier wichtigsten Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre. Menschen mit psychischen Erkrankungen haben zudem im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine um 10 Jahre verringerte Lebenserwartung. 2018 nahmen sich in Deutschland etwa 9.300 Menschen das Leben. Zwischen 50 % und 90 % der Suizide lassen sich auf eine psychische Erkrankung zurückführen.“ [Quellenhinweise im Originaltext] 2.5.2/1 DGPPN

      so fasste die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde/DGPPN im Oktober 2020 die Prävalenz Psychischer Erkrankungen zusammen. Mehr als 44 Milliarden Euro werden für die Behandlung psychischer Erkrankungen jedes Jahr ausgegeben – keine anderen Krankheiten verursachen so viele Erwerbsminderungsrenten wie psychische Störungen, im Jahr 2018 betrug der Anteil 16 %.

      „Die Dauer von Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen liegt durchschnittlich bei 42 Tagen. Psychische Erkrankungen sind heute mit 42 % auch der häufigste Grund für Frühverrentungen. Die Gesamtkosten aufgrund psychischer Erkrankungen inklusive direkter Kosten für die medizinische Versorgung und Sozialleistungen sowie indirekter Kosten, z. B. durch Produktivitätseinbußen, werden für Deutschland auf rund 147 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Das entspricht einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 4,8 %.“ 2.5.2/2 DGPPN

      Ein unklarer, aber vermutlich nicht unwesentlicher Anteil psychischer Erkrankungen dürfte auf Fehldiagnosen beruhen, da komplexmedizinische (z. B. genetische, metabolische, immunologische) Untersuchungen üblicherweise nicht durchgeführt werden. } Siehe Kapitel 31 Manche Kritiker sprechen von einer „Psychiatrisierung der Gesellschaft“. In Bezug auf Depressionen wird von Experten wie dem renommierten Psychiater Ludger Tebartz van Elst darauf verwiesen, dass bei etwa 20 % der Betroffenen eine Reaktion des Immunsystems vorliegt, die zu einer Gehirnentzündung führt. Dennoch wird dieser Verdacht nicht regelhaft abgeklärt.

      Was bedeutet „psychosomatisch“?

      Seelisches Erleben drückt sich körperlich aus: Seelische Belastungen („Psycho-“) führen zu körperlichen Beschwerden („Soma“: Körper). Vor Prüfungen kann es zu Übelkeit und/oder Harndrang kommen, bei Schockreaktionen zu Ohnmacht. Weitere Beispiele sind Lampenfieber vor einem Auftritt oder verstärktes Herzklopfen in bedrängenden Situationen. Langandauernde seelische Belastungen können sich z. B. als verspannungsbedingte Rückenbeschwerden oder Kopfschmerzen äußern.

      Was bedeutet somatopsychisch?

      Weniger bekannt ist der umgedrehte Fall: Körperliche Balance oder Dysbalance drückt sich in Wohlbefinden oder in psychischen Störungen aus. Die Somatopsychologie untersucht die Auswirkungen von körperlichen Veränderungen auf emotionale und kognitive Prozesse. Nerven-Degenerationen in Gehirnarealen durch Pestizidbelastungen können psychische Symptome hervorrufen. Die Schäden lassen sich durch bildgebende Verfahren nachweisen. Sie sollten als primäre, zu untersuchende und zu behandelnde Ursache erkannt werden, denn die Reihenfolge ist entscheidend: Die psychischen Symptome sind die Folge der Pestizidbelastung.

      In einer Studie des Max-Planck-Instituts München wurde gezeigt, dass eine genetische Hochregulierung der Interleukin-6/IL-6-Signalisierung mit Suizidalität assoziiert war. 2.5.2/3 Kappelmann et al. Ein ähnlicher entzündlicher (also immunologischer) Zusammenhang wird für eine Subgruppe von Patienten mit Depression beschrieben. } Siehe Kapitel 15

      Von einem extremen, aber vermutlich nicht seltenen Beispiel berichtete der oben erwähnte Psychiater Ludger Tebartz van Elst in einem Interview mit Stefan Schleim:

      „Ich muss hier insbesondere an eine Patientin denken, die uns auch die Zustimmung gegeben hat, Ihren Fall für Fortbildungen zu verwenden. Sie hörte nicht nur Stimmen, sondern litt auch unter Wahnvorstellungen: Sie meinte, Menschen wollten überall Sex mit ihr haben. Sie roch auch überall sexuelle Düfte. Das war für sie sehr schwer. Nun konnten wir zwar mit sogenannten Neuroleptika das Stimmenhören behandeln. Die führten aber einerseits zu Nebenwirkungen und andererseits blieb der Wahn bestehen. Nach sieben Jahren des Suchens und Ausprobierens folgten wir noch einmal einer Spur, die auf eine Hirnentzündung deutete, und behandelten die Frau mit Kortison. Nach einer Woche waren die Probleme verschwunden.“ 2.5.2/4 Schleim

      Die dualistische Sichtweise verlassen

      Unser derzeitiges dualistisches Gesundheitsverständnis bewirkt, dass man als Patient entweder der einen oder der anderen Fachgruppe zugewiesen wird. Diese Einteilung ist mit Risiken verbunden: Einerseits werden Psychische Erkrankungen zu spät erkannt, andererseits führt dieses Entweder-oder-Denken zu oft zu der Annahme, dass medizinisch „unerklärliche“ Symptome psychogen seien. Patienten, bei denen eine „Etikettierung“ nicht gelingt, stellen Behandler vor erhebliche diagnostische und therapeutische Schwierigkeiten.

      „Psychisch“ ist kein Gegensatz zu „organisch“

      In Kapitel 26 wird die noch junge


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