Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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in anderen Subsystemen des Systems Erde hervorrufen und so Kaskadeneffekte auslösen.“ 2.4.1/1 Wikipedia

      Dieses Konzept der Kippelemente kann man eins zu eins auf die Entstehung multisystemischer Erkrankungen und den Verlust der Homöostase beziehen. Das folgende Zitat aus dem Wiki.Bildungs-Server lässt sich zwanglos von klimatischen auf medizinische Zusammenhänge übertragen, dazu wurden in Version 2 alle klimarelevanten Begriffe durch medizinrelevante ersetzt und unterstrichen.

      „Viele Menschen gehen davon aus, dass in einem komplexen System wie dem Klima kontinuierliche Änderungen der Rahmenbedingungen auch eine allmähliche Reaktion des Systems hervorrufen. Als Beispiel stelle man sich eine Taschenlampe vor, die durch einen Dynamo angetrieben wird: Je stärker man kurbelt, desto heller strahlt die Lampe.

      Auch in der Wissenschaft werden komplizierte Systeme oft vereinfacht, indem in einem bestimmten Gültigkeitsbereich ein konstanter Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung angenommen wird. Weil das Klimasystem aber nichtlinear ist und es zahlreiche positive Rückkopplungen (Prozesse, die sich selbst verstärken) gibt, ist diese Annahme im Allgemeinen jedoch nicht richtig. Somit kann es insbesondere in dafür anfälligen Regionen zu plötzlichen und drastischen Klimaänderungen kommen. Auch eine kleine Beeinflussung durch den Menschen (zusätzlich zu den bisher scheinbar folgenlos gebliebenen Eingriffen) kann dann das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen bringen. Auch wenn die Ursache danach zurückgenommen werden sollte, wird das Klima nicht unbedingt wieder in den alten Zustand zurückkehren, die Änderung ist also irreversibel.

      Die Identifizierung solcher großräumiger „Kipppunkte“ und die Vorhersage eines „Umkippens“ von natürlichen Systemen könnte daher großen Schaden verhindern, die Wissenschaft ist davon aber noch ein großes Stück entfernt.“ 2.4.1/2 Wiki.Bildungsserver

       Version 2:

      „Viele Menschen gehen davon aus, dass in einem komplexen System wie der Medizin kontinuierliche Änderungen der Rahmenbedingungen auch eine allmähliche Reaktion des Systems hervorrufen. Als Beispiel stelle man sich eine Taschenlampe vor, die durch einen Dynamo angetrieben wird: Je stärker man kurbelt, desto heller strahlt die Lampe.

      Auch in der Medizin werden komplizierte Systeme oft vereinfacht, indem in einem bestimmten Gültigkeitsbereich ein konstanter Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung angenommen wird. Weil Gesundheit aber nichtlinear ist und es zahlreiche positive Rückkopplungen (Prozesse, die sich selbst verstärken) gibt, ist diese Annahme im Allgemeinen jedoch nicht richtig. Somit kann es insbesondere in dafür anfälligen Regulations-Systemen oder Körper-Regionen zu plötzlichen und drastischen Zell-Gewebe- oder Organänderungen kommen. Auch eine kleine Beeinflussung durch einen Stressfaktor, (zusätzlich zu den bisher scheinbar folgenlos gebliebenen Risikofaktoren) kann dann das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen bringen. Auch wenn die Ursache danach zurückgenommen werden sollte, wird der Organismus nicht unbedingt wieder in den alten Zustand zurückkehren, die Änderung ist also oft, aber nicht immer irreversibel.

      Die Identifizierung synergetischer Belastungen und die Vorhersage eines „Umkippens“ von relativer Gesundheit zu multisystemischen (Komplex-)Erkrankungen könnte daher großen Schaden verhindern, die Medizin ist davon aber noch ein großes Stück entfernt.“

Ob ein Einflussfaktor wie z. B. ein Virus zum Kipp-Punkt/System-Sprenger wird, hängt also einerseits von seiner Gefährlichkeit ab – andererseits aber auch von der aktuellen Immunkompetenz/Robustheit des Wirtes.

      Das sehen wir z. B. anhand der sehr unterschiedlichen Verläufe bei der derzeitigen COVID-19-Pandemie. Ca. 80 % der COVID-19-Patienten erleben milde Verläufe. Als Risikofaktoren für absehbar schwere Verläufe gelten z. B. chronische Vorerkrankungen und fortgeschrittenes Alter. Die Tatsache, dass scheinbar gesunde, junge COVID-19-Patienten unerwartete, langanhaltende Langzeitfolgen zeigen, (also „nicht unbedingt wieder in den alten Zustand zurückkehren“) ist ein Beispiel für die oben beschriebenen synergistischen Kipp-Punkte.

      Ein anderes Beispiel ist, dass manche ME/CFS-, MCS- und auch COVID-19-Langzeit-Patienten den Ausbruch der Erkrankung wie das Umlegen eines Schalters erleben. Eine Patientin berichtete:

      „Innerhalb von drei Tagen brach meine Welt einfach zusammen.“

      2.5 Drei Exkurse in unübersichtliches Gebiet

      Bevor wir uns den Facetten der Systemischen Epimedizin intensiver zuwenden, wagen wir uns in drei Exkursen in medizinische Grauzonen vor.

       Exkurs 1 widmet sich der Frage, ob es eine trennscharfe Definition gibt, die gesund von krank unterscheidet.

       Exkurs 2 behandelt die Frage, ob wir Erkrankungen präzise in somatische (körperliche) und psychische aufteilen können.

       Exkurs 3 untersucht die Trennschärfe von Ursache und Wirkung, verstärkenden Faktoren, Auslösern und Rückkopplungen.

      2.5.1 Exkurs 1: Gesund oder krank?

      „Befindlichkeitsstörung“ oder diagnostizierte Erkrankung?

      Viele Patienten erleben eine diagnostische Odyssee. Das betrifft zum einen Menschen, die an sehr seltenen Erkrankungen leiden, zum anderen Patienten mit unspezifischen Symptomen wie z. B. Fatigue, Schmerzen oder Schlafstörungen. Langandauernde unklare Beschwerden gehören zu den häufigsten Gründen für Arztbesuche. Diese Beschwerden treten bei vielen Krankheitsbildern auf. Die Diagnostik erfordert Zeit und detektivisches Gespür.

Unspezifische Beschwerden werden auch verharmlosend „Befindlichkeits-Störungen“ genannt. Tatsächlich aber ist das Fundament erschüttert – die vitalen Grundfunktionen unseres Lebens: Schlafen, Atmen, Verdauen und die Mentalprozesse.

      Ab wann sind wir „krank“?

      „Gesund-sein“ oder „Krank-sein“ sind keine statischen Zustände, sondern Prozesse, die mehr in die eine oder mehr in die andere Richtung tendieren. Man schläft schlecht, im Magen zwickt es schon mal, man ist müde („ach, das Wetter“) oder hellwach („zu viel Stress“); die Verdauung ist zu rasant oder zu langsam. Kurz und gut, man ist nicht krank. Aber auch nicht kerngesund. Die Frustrationstoleranz gegenüber diesen „Zipperlein“ ist enorm. Man muss nicht zwingend zum Arzt und es gibt keinen Grund, nicht arbeiten zu gehen. Eine Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes/DGB vom Februar 2018 zeigte, dass 67 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer trotz Krankheit zur Arbeit gingen.

      Unter „krank“ versteht man gemeinhin einen Zustand, der mit akuten, einschränkenden Symptomen einhergeht. Wer eine schwere Grippe hat, ist krank. Wer einen Schlaganfall erlitten hat, ist krank. Wer gepflegt werden muss, ist krank. Wer „nur“ funktionelle Störungen hat, ist kraftlos, schlapp, matt, müde, unkonzentriert oder wie gelähmt vor Schmerzen, ohne Schwung oder apathisch. Aber krank?

      Viele Patienten mit sogenannten funktionellen Beschwerden ringen sich tagtäglich die Leistungen ab, die der Alltag fordert. Diese Störungen können zu erheblichen Einbußen an Lebensqualität führen. Alles wird mühsamer: verdauen, bewegen, arbeiten. Man braucht mehr Pausen – aber irgendwie kämpft man sich durch. Auch die Teilnahme an sozialen Aktivitäten nimmt mehr und mehr ab: man beschränkt seine Aktivitäten notgedrungen auf das, was „machbar“ ist.

      Ein Knochenbruch ist ein handfester Befund: er lässt sich röntgen, man sieht deutlich den Schaden und weiß im Allgemeinen, wie er zu beheben ist. Für das Maß funktioneller Erkrankungen gibt es keine „Richterskala“. Schmerzen, Erschöpfung oder Müdigkeit sind stets eine ausschließlich persönliche Empfindung – kaum nachvollziehbar für andere.

      2.5.2 Exkurs 2: Physische oder psychische Erkrankung?

      „Ihre Beschwerden sind psychisch bedingt“

      Sofern kein organischer Befund vorliegt, gehen Behandler üblicherweise davon aus, dass die körperlichen Beschwerden als Folge eines inneren (psychischen) Konflikts entstanden sind und nicht organisch erklärt werden können. Betroffene Patienten profitieren dann ggf. von psychotherapeutischen Therapien. Wir wissen beispielsweise aus der Psycho-Onkologie, dass begleitende psychotherapeutische Unterstützung lebensverlängernd wirken kann.

      Kein Behandler


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