Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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      Abb. T2 Die multistressorische Gesamtlast

      Zur Bezeichnung Stressfaktor/Stressor in diesem Buch

      Erweiterung des Stressbegriffes

      Üblicherweise verstehen wir unter Stress vorwiegend psychosozialen Stress. Zeit- und Termindruck, Arbeitsüberlastung, Doppelbelastung, familiäre Probleme, Mobbing und ähnliche Faktoren. Diese sind üblicherweise gemeint, wenn jemand sagt, er habe Stress. Im Verständnis von Erworbenen Multisystem-Erkrankungen nehmen Stressfaktoren aller Art eine zentrale Stellung ein. Dazu gehören nicht nur die erwähnten psychosozialen Faktoren.

      Als Stressfaktoren/Stressoren können alle förderlichen oder belastenden Faktoren gelten, die auf den Organismus einwirken und eine Antwort verlangen. Das Spektrum dieser Einflussfaktoren reicht vom angenehmen Duft einer Blume über Allergene bis zu Viren, Schwermetallen oder Chemikalien – um nur einige Beispiele zu nennen.

      Kapitel 3 Die Klassische Stressforschung

      Wir Menschen leben und entwickeln uns, weil wir über unsere Sinne, über die Luft, die wir atmen, über die Ernährung, über unsere (Schleim-)Haut mit unserer Umwelt verbunden sind. In diesem Sinne ist unser Organismus ein System, das offen ist für Einflüsse, die wiederum Teil anderer Systeme sind. Diese „Berührungen“ sind das „Salz in der Suppe“ – ohne Sinnesreize werden wir krank. Eine zu reizarme Umgebung kann auf lange Sicht genauso schädlich wirken wie ein Zuviel an herausfordernden Stressfaktoren. Wir leben in permanenter Auseinandersetzung mit der Umwelt und sind auf der Hut vor Bedrohungen. Lebensgefährliche Situationen müssen sofort erkannt werden und fordern eine schnelle physische und psychische Antwort.

Alle Erkrankungen, die wir im Laufe unseres Lebens erwerben, zeigen einen engen Zusammenhang mit Einflüssen, die wir mitbringen, denen wir begegnen, denen wir ausgeliefert sind oder die wir selbst erzeugen.

      3.1 Wie verarbeiten wir wahrnehmbare Reize?

      Stress hält gesund

      Der Duft einer Rose, das Lachen eines Kindes, das Lesen eines Buches – Sinneseindrücke halten uns gesund, fordern uns heraus und sorgen dafür, dass wir körperlich und mental nicht „einrosten“. Durchschnittlich 400.000 Reize treffen pro Sekunde auf unsere Sinnesorgane ein! Die Erwerbsarbeit, das Versorgen der Kinder, einkaufen, Freizeitgestaltung – solange alles bewältigt werden kann, ohne uns zu überfordern, wachsen unsere Kompetenzen im Umgang mit Stressfaktoren und erhöhen unsere Widerstandskraft. Was aber, wenn auf akuten Stress immer wieder akuter Stress folgt?

      Stress macht krank

      Zu viel Stress macht krank. Mittlerweile ist durch Studien aus der Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie gut belegt, dass durch körperliche und psychische Überforderung eine erhöhte Infektanfälligkeit entsteht. Der Psychoimmunologe Prof. Christian Schubert erläutert diese Zusammenhänge in dem Artikel Psychoneuroimmunologie und Infektanfälligkeit. 3.1/1 Schubert

      Akut-Stress plus Akut-Stress plus Akut-Stress wird zu chronischem Dauerstress. Für chronischen Stress gelten andere Gesetzmäßigkeiten als für Akutstress:

      Aus dem biologisch sinnvollen, physiologischen Prozess der Stressverarbeitung kann sich durch zu viele Stressoren (} chemischer, physischer, psychischer, biologischer Dauerstress) oder zu starke Reize (} chemisches, physisches, psychisches, biologisches Trauma) ein pathologisches Geschehen entwickeln.} Siehe Kapitel 3.1.5

      Abb. 3.1/1 Reizüberflutung und Ereignisdichte

      Wir erleben heute quantitativ deutlich mehr Sinnesreize als unsere Vorfahren in vorindustrieller Zeit. Qualitativ kommen zu den natürlichen Alltagswahrnehmungen wie Vogelgezwitscher (Hören), natürliche visuelle Umgebung (Sehen), natürliche Gerüche (Riechen), natürliche Lebensmittel (Schmecken), natürliche Oberflächen (Tasten) eine Vielzahl künstlicher Quellen, z.B. Fernsehen und Digitaltechnik (Sehen, Hören); Beschallung (Hören), Beduftung in Warenhäusern (Riechen), künstliche Aromen in Lebensmitteln (Schmecken) und, Kunststoff-Oberflächen (Tasten).

      3.1.1 Die erste Kaskade der Stressreaktion

      „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“ („Fight or Flight Response“)

      Nehmen wir an, Sie sitzen im Flugzeug, in wenigen Minuten werden Sie zum ersten Mal mit einem Fallschirm springen. Alle Sinne sind hellwach. Unsere Sinneswahrnehmungen werden zuerst in einem Teil der Großhirnrinde, dem Neokortex wahrgenommen. Nur 400–600 Millisekunden sind nötig, um Sinneswahrnehmungen als bedrohlich oder als harmlos einzustufen. Diese Informationen werden über Botenstoffe unverzüglich an das Limbische System weitergegeben: Das ist ein mit der Großhirnrinde eng verbundenes Nervenzell-System, das als „Zentrum für emotionale Intelligenz“ gilt. Hier ist die Quelle unserer Befindlichkeiten, unserer Gefühle, unserer Motivationen. Hier erfahren wir unsere individuelle emotionale Prägung, die auf unseren individuellen Vorerfahrungen basiert. Diese reichen bis in das frühe Kindesalter und sogar bis in die Embryonalzeit.

Sie springen! Das limbische System aktiviert den Sympathikus-Nerv, der bewirkt, dass Kaskaden von Adrenalin und Noradrenalin aus dem Nebennierenmark freigesetzt werden. Die Werte dieser Katecholamine können um das 50fache ansteigen. Sie binden an die alpha- und beta-adrenergen Membranrezeptoren vieler, sehr unterschiedlicher Zellen im ganzen Körper. Diese Information setzt unmittelbar zahlreiche Stoffwechselprozesse in Gang.

      Innerhalb von Sekundenbruchteilen entscheiden wir in Stress-Situationen, ob wir flüchten können, ob wir angreifen – oder ob wir uns totstellen. Diese unmittelbare, erste, vegetativ (vom Sympathikus) gesteuerte Stressreaktion wird nach dem US-amerikanischen Physiologen Walter B. Cannon als „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“ („Fight or Flight Response“) bezeichnet.

      Abb. 3.1.1/1 Die Stress-Antwort auf wahrgenommene Stressreize verläuft in zwei Phasen

      Abb. 3.1.1/2 Die vollständige und die unvollständige Stress-Antwort

      Das Autonome Nervensystem

      Das Autonome Nervensystem/ANS oder auch kurz Vegetativum genannt, ist der autonom gesteuerte, d.h. nicht willkürlich beeinflussbare Teil des Nervensystems. Seine Neuronen befinden sich sowohl im zentralen Nervensystem (ZNS) als auch im peripheren Nervensystem (PNS).

      Synonym verwendet werden die Bezeichnungen Vegetatives Nervensystem oder Viszerales Nervensystem/VNS. Viszeral bedeutet „die Eingeweide betreffend“.

      Das ANS erhält ununterbrochen sensible Informationen aus unseren Organen und Geweben sowie aus der Umwelt. Über die Nervenstränge des Sympathikus und des Parasympathikus, die vom Gehirn in die Peripherie laufen, ist das vegetative Nervensystem direkt mit den Organsystemen und Geweben – wie Herzmuskel, glatte Muskulatur der Eingeweide, Blutgefäße sowie die Drüsen des Körpers – vernetzt. Und auch mit den Immunorganen, -geweben und -zellen.

Die Nervenfasern haben synaptische Endknöpfchen, die den direkten Kontakt mit Immunzellen ermöglichen. Hier verbindet sich das Gehirn mit dem Immunsystem.

      Bei Gefahr werden die lebenswichtigen Funktionen/Vitalfunktionen blitzschnell angepasst.

       Das Vegetativum gliedert sich in drei Bereiche:

       Das Sympathische Nervensystem/Sympathikus

       Das Parasympathische Nervensystem/Parasympathikus

       Mittlerweile wird auch das Enterische Nervensystem, unser „Bauchhirn“ als Teil des ANS verstanden } Siehe Kapitel 21

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