Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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ist die Überzeugung widerlegt, dass Psyche, Nervensystem, Hormonsystem und Immunsystem jeweils unabhängige Funktionskreisläufe darstellten, die nicht viel miteinander zu tun haben. „Psychisch“ ist daher kein Gegensatz zu „organisch“. Vielmehr beschreibt der Begriff „Psychisch“ den Schauplatz der Beschwerden: die Veränderungen im Denken und Erleben, in der Gestimmtheit. Wie bei einem Marionettentheater ist das Geschehen auf der Bühne (die psychischen Beschwerden) jedoch nur ein Teil des Ganzen. Möglicherweise sind die ursächlichen, organischen „Strippenzieher“ geheimnisvoll verborgen.

Multisystemisch komplexerkrankten Patienten wird häufig aufgrund der (scheinbar!) unauffälligen organischen Befunde dysfunktionales Denken und Verhalten attestiert.

      Viele Patienten mit unklaren, „medizinisch unerklärlichen“ Symptomen fühlen sich alleingelassen. Die Beschwerden, unter denen der Patient real – aber „subjektiv“ – leidet, sind nicht durch die üblichen Standard-Untersuchungen objektivierbar. Aus Patientensicht verlaufen solche Arztgespräche frustrierend, aus Sicht des Arztes fordern solche Patienten zu viel und das Falsche, sind übertrieben wehleidig und/oder undankbar für die angebotenen Hilfen. Das kann zu häufigem Wechsel der Behandler führen („doctor hopping“) und lässt Raum für jede Menge Spekulationen: „Übertreibst Du nicht ein wenig?“ „Der simuliert wahrscheinlich, um an die Rente zu kommen“ „Reiß Dich doch zusammen“, „Bist wohl hypochondrisch veranlagt“. Derlei Vermutungen belasten den Patienten, das Familien- und Berufsleben und auch das Therapeuten-Patienten-Verhältnis.

      Krankheitsgewinn

      Wer krank ist, hat den „Vorteil“ eines Schonraumes. Sigmund Freud entwickelte den Begriff des „Krankheitsgewinns“. Damit ist gemeint, dass es sinnvoll sein kann, krank zu sein und diesen Zustand aufrecht zu erhalten.

       Der primäre Krankheitsgewinn: Die (unbewusste) Flucht in die Krankheit entbindet vor unangenehmen Anforderungen, z. B. vor beruflichen oder sozialen Verpflichtungen. Auf diese Weise lassen sich bestimmte Situationen oder Konflikte vermeiden. Die Krankheit ist „nützlich“ für den Patienten.

       Der sekundäre Krankheitsgewinn: der Patient stellt sich auf seine Erkrankung ein. Er genießt die Fürsorge, Entlastung und Rücksicht der sozialen Umgebung und hat keine Veranlassung, diese Situation zu ändern.

Viele multisystemisch erkrankte Patienten verlieren ihre Arbeitsfähigkeit, sind behindert oder pflegebedürftig, erleben eine erhebliche Einbuße an Lebensqualität und geraten überdurchschnittlich oft in prekäre Verhältnisse. Sie empfinden es als (weiteren) Schlag ins Gesicht, wenn ihre Krankheits-Situation als „Krankheitsgewinn“ gedeutet wird.

      2.5.3 Exkurs 3: Ursache und Wirkung

      Systemische Wirkketten

      Vielleicht hatten Sie mal Schmerzen an der Fußsohle, und Sie haben über längere Zeit gehumpelt. Das belastete die Hüftknochen und die Wirbelsäule. Die Wirbelsäule hat versucht, den Kopf möglichst gerade zu halten – in der Folge entstanden Nackenverspannungen. Der Ort der Ursache (Fußsohle) ist also nicht identisch mit dem Ort der Schmerzen (Nackenmuskulatur). Das ist ein sehr grobes Beispiel für kompensatorische Vorgänge, die bis in den Molekularbereich reichen: Der Ort der Ursache ist auch hier vielfach nicht der Ort der Wirkungen.

      Zusammenbruch der Kausalitäts-Mechanismen

      Das lineare Ursache-Wirkungsprinzip greift zu kurz. Vielmehr handelt es sich um dynamische Prozesse: Permanent treffen vielfältige Umweltfaktoren auf ein komplexes Resonanz-Netzwerk, das sich millisekündlich auf die aktuelle Lebenssituation einpendelt. Jeder einzelne dieser Reize hat das Potential, auf Zellstrukturen (z. B. Mitochondrien oder unser Erbgut) einzuwirken und vergängliche oder bleibende Spuren zu hinterlassen.

      Im Zusammenhang mit Erworbenen multisystemischen Komplex-Erkrankungen ist stets von „ungeklärter Ätiologie“ (Ätiologie: Ursache für das Entstehen einer Krankheit) die Rede. Sofern man voraussetzt, dass eine einzige Ursache alles erklären könnte, wird sich daran auch nicht viel ändern. Einen alles erklärenden EmKE-Virus gibt es vermutlich so wenig wie ein alles erklärendes EmKE-Gen. Anders als bei den EmKE scheint bei einer COVID-19-Erkrankung der Auslöser der Beschwerden eindeutig: SARS-CoV-2. Nicht bekannt ist die Ursache für die überaus unterschiedlichen akuten und chronischen Verläufe. Hier spielen also noch weitere Faktoren eine Rolle. Trotz eindeutigem Erreger ist der Verlauf multikausal.

Es gibt unüberschaubar viele individuelle Einflüsse, die ein Geflecht von Ursachen, Auslösern und verstärkenden Faktoren ergeben.

      Abb. 2.5.3/1 Lineare Sichtweise

      Abb. 2.5.3/2 Systemische Sichtweise: Systemische Effekte in komplexen Netzwerken

      Das lineare Ursache-Wirkungsprinzip erklärt einen Sachverhalt als logische Folgewirkung einer Ursache. In komplexen Systemen, ob bei der Erderwärmung oder bei multisystemischen Erkrankungen, sind durch die Vielzahl der beteiligten Faktoren, („Ursachen“) die Vorgänge jedoch so eng miteinander verflochten, dass Ursache und Wirkung sich verschränken können. Der Gesamt-Mechanismus, bzw. -Organismus folgt, aufgrund von dynamischen Wechselwirkungen, Feedback-Schleifen, Blockaden, Verstärkungen und Synergien anderen Gesetzen als die jeweiligen Einzelmechanismen.

      Angesichts dieser Fülle und Variabilität ist schwer auszumachen, welche Gewichtung einzelne Faktoren bei einer Erkrankung haben. Vielmehr sehen wir eine sehr persönliche, individuelle Summenbelastung von Reizen, die synergistisch auf unterschiedlich vulnerable Organismen trifft.

      Diese Vorgänge sind so eng verflochten, dass Ursache und Wirkung sich verschränken können.

      Keine (biomedizinische) Ursache

      Das Beharren auf einem ätiologischen Krankheitsverständnis kann im Kontext multisystemischer (Komplex-)Erkrankungen zu einer Argumentationskette der Bagatellisierung komplexmedizinischer Zusammenhänge führen. Diese Argumentationskette lautet: Da bei multisystemischen Komplex-Erkrankungen keine (biomedizinische) Ursache zu finden sei („ungeklärte Ätiologie“), sei weder eine Diagnose noch eine Therapie im biomedizinischen Sinne möglich. Als Hilfsangebot wird auf die kognitive Verhaltenstherapie zur Vermittlung geeigneter Bewältigungsstrategien verwiesen.

Ein ausreichender Wirksamkeitsnachweis dieses Ansatzes konnte jedoch bislang weder für ME/CFS, noch für MCS und nur beschränkt für FMS erbracht werden. } Siehe Kapitel 7

      TEIL 2 DIE MULTI-STRESSORISCHE GESAMTLAST

      TEIL 2 widmet sich der Erkundung unterschiedlicher Arten und Qualitäten von wahrnehmbaren und nicht-wahrnehmbaren (unterschwelligen) Reizfaktoren, die zusammen als multistressorische, bzw. multifaktorielle Gesamtlast bezeichnet werden.

      „Stressforschung“ untersucht klassischerweise die organischen Vorgänge der Stresswahrnehmung und die Wirkung sensorischer, insbesondere psychosozialer Faktoren auf das körperliche und seelische Wohlbefinden. Diesem Thema widmet sich Kapitel 3.1 dieses zweiten Teils. In Kapitel 3.2 wird der Stressbegriff auf weitere, überwiegend nicht sensorisch wahrnehmbare Umweltfaktoren erweitert. Unabhängig von der Art der Trigger – ob psychisch, physikalisch, biologisch oder chemisch – ergeben sich letztlich auf Zellebene ähnliche pathologische Veränderungen – mit weitreichenden gesundheitlichen Folgen. In Kapitel 3.3 werden exemplarisch einige Umweltschadstoffe beschrieben, ihre (toxischen) Eigenschaften, ihr Aufkommen und ihre Wirkung auf unsere Gesundheit. In Kapitel 3.4 wenden wir uns schließlich der multifaktoriellen Gesamtbelastung zu, der die Bevölkerung der industrialisierten Länder heute kollektiv – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – ausgesetzt ist. Die in Kapitel 3.3 vorgestellten Schadstoffe sind ebenso Teil der alltäglichen kollektiven Grundbelastung der Bevölkerung wie unsere hektische


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