Im Schatten der Dämmerung. Marc Lindner
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Marc Lindner
Im Schatten der Dämmerung
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
Ein rauer Wind strich über die tiefen Fugen der dicken Steinmauern und ließ in der Burg ein unstetes Pfeifen ertönen. Regen klatschte gegen die Fenster, überflutete die Scheiben und ließ die im Dunkeln liegende Welt verschwimmen. Doch das Glas war zu dieser Stunde ohnehin kaum mehr als ein dunkler Spiegel.
Ein breites Himmelbett wurde von dem flackernden warmen Licht eines mannshohen Kamins beleuchtet, und jeder noch so kleine Gegenstand warf unheimliche Schatten.
Im Bett lag ein Kind, ein Junge, und hatte sich tief unter die zahlreichen Decken verkrochen. Die Wände der Burg strahlten eine Kälte aus, die bis tief in die Knochen zog. Längst verfügte nicht jedes Zimmer über einen Kamin und so schlich ein kalter Hauch über den steinigen Boden.
Besonders an Winterabenden wie diesem war der Junge froh, wenn er sich unter seinem Schutzwall aus Decken verstecken konnte und das Knistern seines Kamins gegen das Heulen des Windes kämpfte.
Leise, aber schleifende Schritte näherten sich dem Zimmer und hallten von den kalten Steinen des Flures wider. Wenig später hob sich das eiserne Schloss der massiven Tür. Die rostigen Scharniere wehrten sich gegen die Bewegung und stöhnten unter der Last.
Der spärlich beleuchtete Flur stahl dem Zimmer seine Wärme und ein kalter Luftzug ließ das Feuer lebhafter flackern.
Herein trat ein von den Jahren krumm gewordener Mann. Sein Kopf und der Buckel seines einst kräftigen Rückens waren auf gleicher Höhe. Kleine listige Augen lugten aus dem Dunkel hervor. Ein Grinsen verunstaltete sein altes Gesicht. Hätte der Junge den Eindringling zum ersten Mal gesehen, er hätte nicht gewusst, ob er sich fürchten sollte oder ob jene Grimasse der Freundlichkeit diente. Selbst die Narrenmütze auf dem Haupt des Alten war weit entfernt von der Farbenpracht der anderer Narren. Im Allgemeinen hatte er wenig an sich, womit er mit den übrigen Burgbewohnern vergleichbar gewesen wäre. Vielleicht mochte der Junge den Mann genau deshalb.
Mit lautem Knacken fiel die Tür ins Schloss. Schwerfällige, aber gleichmäßige Schritte näherten sich dem Kamin. Er stocherte mit dem Schürhaken in der Glut, bevor er wie jeden Abend vor dem Feuer stehen blieb, sich die Hände rieb und darauf wartete, dass die Kälte des Tages aus ihm zu weichen begann.
Ohne den geringsten Ton von sich zu geben, lugte der Junge über die Decken hinweg. Er kannte das Ritual und wusste, dass der Alte als Erster sprach. Natürlich hatte seine Ungeduld ihn schon oft diese Regel vergessen lassen, aber dann ging der eigensinnige Narr, ohne seine Geschichten zu erzählen. Aber auf eben jene Geschichten freute sich der Junge den ganzen Tag.
Das Zimmer hellte sich auf, als der Alte sich vom Kamin entfernte. Sein ritusähnlicher Weg führte ihn zu dem Fenster, gegen das der Regen klatschte. Mit dem Finger strich er über das Glas als suchte er einen unbekannten Ort auf einer riesigen Landkarte.
Dann endlich, als er sicher war, dass nirgends draußen mehr ein fremdes Licht leuchtete, zog er seinen Körper auf einen mächtigen Sessel neben dem Bett.
Der Junge wurde unruhiger. Seine Finger spielten mit dem ausgefransten Saum der obersten Decke.
Aber noch ließ der Narr sich Zeit mit seiner allabendlichen Geschichte.
„Weißt du, mein Junge“, erlöste der Narr das Kind schließlich. „Habe ich dir schon die Geschichte