Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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      Der Fremde griff nach seinem Stock und Tornister und ging davon.

      Als er herauskam, warfen ihn einige Kinder, die ihm von der ersten Herberge her gefolgt waren und hier auf ihn zu warten schienen, mit Steinen. Er lief ihnen wüthend nach und drohte mit dem Stock. Die Kinder stoben auseinander wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel.

      Er kam an einem Gefängniß vorbei. An der Thür hing eine eiserne Kette, die an einer Glocke befestigt war. Er schellte.

      »Herr Schließer, bat er mit demüthig abgenommener Mütze, »würden Sie wohl die Güte haben mir aufzumachen und mir für diese Nacht Unterkunft zu geben?«

      Eine Stimme antwortete:

      »Ein Gefängnis ist keine Herberge. Erst müssen Sie arretirt sein. Dann wird Ihnen aufgemacht.«

      Damit ging das Schiebefenster wieder zu.

      Nun kam er in eine Straße, an der viele kleine Gärten liegen. Einige davon sind, statt mit hohen Mauern, nur von Hecken eingehegt, was der Straße ein hübscheres Aussehen verleiht. Hier erblickte er ein kleines einstöckiges Haus, dessen Fenster erleuchtet war. Er schaute hinein, wie kurz vorher in die Fenster der Schenke. Er sah ein großes weißgetünchtes Zimmer mit einem Bett, das mit Draperien aus bedrucktem Kattun behängt war, einer Wiege in einer Ecke, einigen Holzstühlen und einer Doppelflinte, die an der Wand hing.

      In der Mitte des Zimmers stand ein gedeckter Tisch. Eine Lampe strahlte ihr Licht aus über das weiße grobe Tischtuch, die zinnerne Weinkanne, die wie Silber glänzte, und die dampfende braune Suppenschüssel. An diesem Tisch saß ein etwa vierzig Jahre alter Mann, der sehr vergnügt ein Kind auf seinen Knieen reiten ließ. Neben ihm säugte eine junge Frau ein andres Kind. Der Vater lachte, das Kind krähte vergnügt und die Mutter lächelte dazu.

      Der Fremde sah einen Augenblick diesem anmuthenden und friedlichen Schauspiel zu. Was ging in seiner Seele vor? Er allein hätte es sagen können. Wahrscheinlich dachte er, daß in einem Hause, wo es so gemüthlich zuging, auch Gastfreundschaft geübt werden müsse. Vielleicht würde er hier, wo er so viel Glück sah, auch ein wenig Erbarmen finden.

      Er klopfte ganz schwach an die Fensterscheibe.

      Niemand hörte.

      Er klopfte zum zweiten Mal.

      Jetzt hörte er die Frau sagen: »Männchen, mir däucht, es klopft.«

      »Bewahre!« antwortete der Mann.

      Er klopfte zum dritten Mal.

      Der Mann stand auf, nahm die Lampe, kam auf die Thür zu und schloß sie auf.

      Es war ein hochgewachsener Mann, halb Bauer, halb Handwerker. Er trug eine große Lederschürze, die ihm bis zur linken Schulter hinaufreichte, und die über dem Gürtel von einem Hammer, einem rothen Tuch, einem Pulverhorn aufgebauscht war. Er hielt den Kopf nach hinten geneigt und sein weit offenes Hemd, dessen Kragen niedergeschlagen war, ließ seinen weißen, stiermäßig starken Hals sehen. Er hatte buschige Augenbrauen, einen gewaltigen schwarzen Backenbart, hervorstehende Augen, ein spitzes Kinn und über dem Ganzen war jener unbeschreibliche Ausdruck von Ruhe und Sicherheit ausgebreitet, welchen das Bewußtsein Herr eines eignen Heims zu sein, dem Menschen verleiht.

      »Ich bitte um Verzeihung, lieber Herr,« begann der Wanderer. »Wenn ich bezahle, würden Sie mir wohl einen Teller Suppe abgeben und einen Winkel in dem Schuppen da, wo ich schlafen könnte. Ja, würden Sie das? Ich bezahle.«

      »Wer sind Sie?« fragte der Hausherr.

      Der Fremde antwortete: »Ich komme von Puy-Moisson. Ich bin den ganzen Tag zu Fuß gegangen. 48 Kilometer. Würden Sie das wohl? Ich bezahle.«

      »Einem rechtschaffenen Menschen, der bezahlte, würde ich schon Unterkunft geben. Aber warum gehen Sie nicht in eine Herberge?«

      »Die sind überfüllt.«

      »Ist nicht möglich. Es war ja heute kein Markttag, kein Jahrmarkt. Sind Sie bei Labarre gewesen?«

      »Ja.«

      »Nun?«

      Der Fremde antwortete verlegen: »Ich weiß nicht – Er hat mich nicht aufgenommen.«

      Sind Sie bei Dingrich, in der Rue Chaffaut gewesen? Die Verlegenheit des Fremden nahm zu. Er stotterte:

      »Der hat mich auch nicht aufgenommen.«

      Das Gesicht des Bauern nahm einen Ausdruck von Mißtrauen an, er betrachtete den Fremden von oben bis unten und schrie plötzlich mit einer Art Entsetzen:

      »Sind Sie etwa der Mann, der ...«

      Er warf einen prüfenden Blick auf den Fremden, trat einige Schritte zurück, stellte die Lampe auf den Tisch und hakte die Flinte von der Mauer los.

      Bei den Worten: »Sind Sie etwa der Mann?« War die Frau von ihrem Sitz aufgestanden, hatte ihre beiden Kinder in die Arme genommen und sich eilig hinter ihren Mann geflüchtet, indem sie erschrocken nach dem Fremden blickte und etwas von »Räubern« murmelte.

      Alles dies geschah in kürzerer Zeit, als erforderlich ist, sich den Vorgang vorzustellen. Nachdem er eine Zeit lang den Ankömmling im Auge behalten hatte, als hätte er eine Viper vor sich, kam der Hausherr in die Thür zurück und sagte:

      »Mach', daß Du fortkommst.«

      »Ein Glas Wasser. Aus Erbarmen.«

      »Eine Kugel durch den Kopf gehört Dir!«

      Damit warf er die Thür heftig zu, und der Abgewiesene hörte, wie innen zwei starke Riegel vorgeschoben wurden. Einen Augenblick darauf wurden die Fensterladen zugemacht, und nach außen drang ein Geräusch, als wenn eine eiserne Stange innen vorgelegt würde.

      Unterdessen kam die Nacht immer näher. Es wehte ein kalter Wind von den Alpen her. Bei dem Schein des verlöschenden Tageslichtes bemerkte der Fremde in einem der Gärten, die sich längs der Straße erstreckten, eine Art mit Rasen belegter Hütte. Er schwang sich schnell entschlossen über den Zaun in den Garten hinüber und ging auf die Hütte zu. Sie hatte statt der Thür eine schmale und niedrige Oeffnung und besaß Aehnlichkeit mit den Baracken, die sich die Chausseearbeiter längs der Landstraßen zu bauen pflegen. Er glaubte ohne Zweifel, sie gehöre wirklich einem Arbeiter; ihm fror und ihn hungerte. Den Hunger wollte er geduldig ertragen, aber er fand hier wenigstens ein Obdach gegen die Kälte. Dergleichen Behausungen sind für gewöhnlich des Nachts nicht bewohnt. Er legte sich platt auf die Erde hin und kroch in die Hütte hinein. Es war warm darin, und er fand ein gutes Strohlager vor. Auf diesem blieb er eine Zeitlang lang ausgestreckt liegen, ohne sich rühren zu können – so groß war seine Müdigkeit. Dann aber machte er sich daran seinen Tornister loszuschnallen, der Bequemlichkeit halber und um ihn als Kopfkissen zu verwerthen. In diesem Augenblick ließ sich ein grimmiges Knurren vernehmen. Er blickte auf. Im Eingang der Hütte zeichnete sich der Kopf einer gewaltigen Dogge ab.

      Er war in eine Hundehütte gerathen.

      Er konnte sich auf seine Kraft verlassen, und wagte sich, den Stock als Angriffs-, den Tornister als Schutzwaffe benutzend, aus der Hundehütte heraus, nicht ohne die Löcher in seinen Lumpen noch weiter aufzureißen.

      Auch aus dem Garten kam er glücklich heraus, rückwärts und indem er mit einem geschickten, den Stockfechtern abgelernten Manöver die Dogge von sich abwehrte.

      Als er, nicht ohne Mühe, seinen Rückzug über den Zaun bewerkstelligt hatte und sich wieder auf der Straße befand, allein, ohne Nachtlager, ohne Obdach, von dem Strohlager und aus der elenden Hütte verjagt, sank er mehr, als er sich setzte, auf einen Stein nieder und stöhnte.

      »Ich habe es nicht einmal so gut wie ein Hund!«

      Bald erhob er sich wieder und wanderte weiter, zur Stadt hinaus, in der Hoffnung einen Baum, einen Schober zu finden, der ihm ein schützendes Obdach gewähren würde.

      So schleppte er sich eine Strecke dahin, den Kopf auf die Brust gesenkt. Als er sich weitab von jeder menschlichen Behausung fühlte, hob er die Augen auf und hielt Umschau.


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