Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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      Der Horizont war tief schwarz, nicht blos von dem Dunkel der heraufsteigenden Nacht, sondern es waren sehr niedrige Wolken, die auf dem Hügel selber zu lasten schienen und über den ganzen Himmel heraufstiegen. Da indessen der Mond zu scheinen begann und im Zenith noch etwas Abendhelle schwebte, bildeten diese Wolken oben eine Art weißliches Gewölbe, von dem sich ein Lichtglanz auf die Erde niedersenkte.

      Die Erde war also heller erleuchtet, als der Himmel, was sich recht schaurig ausnahm, und der kläglich winzige Hügel hob sich matt und undeutlich von dem düstern Horizont ab.

      Die ganze Aussicht war eine öde, abstoßende, armselige, unheimlich eingeengte. Auf dem Acker und auf dem Hügel nichts, als ein verkrüppelter Baum, der sich in einer Entfernung von wenigen Schritten, vom Winde durchschauert, hin und herkrümmte.

      Unser Wanderer war sicherlich weit davon entfernt jene Empfindungs- und Denkweise zu besitzen, die das Gemüth feinerer Menschen für geheimnisvolle Natureindrücke empfänglich macht; allein dieser Himmel, dieser Hügel, diese Ebene, dieser Baum waren so schaurig, so wüst, daß er nach kurzem Besinnen seine Schritte hastig rückwärts lenkte. Es gibt Augenblicke, wo die Natur dem Menschen ein feindliches Gesicht zeigt.

      Er kehrte auf demselben Wege wieder nach der Stadt zurück, und fand die Thore schon geschlossen. Denn Digne, das in den Religionskriegen Belagerungen ausgehalten hat, war noch 1815 von Mauern mit viereckigen Thürmen umgeben, die seitdem geschleift worden sind. Der Fremde ging durch eine Bresche in die Stadt hinein.

      Es mochte jetzt acht Uhr Abends sein. Da ihm die Straßen unbekannt waren, marschierte er wieder ohne Plan und Ziel.

      Auf diese Weise kam er an der Präfektur, dann an dem Seminar vorbei. Als er über den Domplatz ging, ballte er die Faust gegen die Kirche.

      In der einen Ecke dieses Platzes befindet sich eine Druckerei. Dort wurden zum ersten Mal die Proklamationen des Kaisers und der kaiserlichen Garde an die Armee gedruckt, die von Napoleon selber auf der Insel Elba diktirt worden waren.

      Vollständig erschöpft und hoffnungslos streckte sich der Obdachlose auf die steinerne Bank aus, die sich vor der Druckerei befindet.

      In dem Augenblick trat eine alte Dame aus der Kirche und sah ihn im Schatten dort liegen. »Was machen Sie da, guter Freund?«

      Er fuhr heftig auf: »Sie sehen ja, gute Frau, ich lege mich schlafen.«

      Die gute Frau, die auf diese Benennung ein volles Recht hatte, war die Frau Marquise von R.

      »Auf diese Bank?«

      »Ich habe neunzehn Jahre lang auf einer hölzernen Matratze gelegen, so kann ich auch einmal auf einer steinernen schlafen.«

      »Sie sind Soldat gewesen.«

      »Ja wohl, gute Frau.«

      »Warum gehen Sie nicht in eine Herberge?«

      »Weil ich kein Geld habe.«

      »Leider habe ich nur vier Sous bei mir.«

      »Geben Sie sie mir.«

      Die Marquise gab ihm das Geld und fuhr fort: »Mit so wenig können Sie keine Unterkunft in einer Herberge bekommen. Aber haben Sie's wenigstens versucht? Sie können doch nicht die Nacht unter freiem Himmel zubringen, Sie haben ohne Zweifel Hunger und frieren. Man hätte Sie aus Mitleid aufnehmen können.«

      »Ich habe an alle Thüren geklopft.«

      »Und?«

      »Sie haben mich überall hinausgeworfen.«

      Die gute Frau berührte den Mann am Arme und zeigte ihm ein kleines niedriges Haus, das auf der andern Seite des Platzes neben dem bischöflichen Palast stand.

      »Sie sagen, Sie haben an alle Thüren geklopft?«

      »Ja.«

      »Auch an die da drüben?«

      »Nein.«

      »Nun dann, klopfen Sie einmal da an.«

      II. Alltagsweisheit und Philosophie

      An demselben Abend war der Herr Bischof nach seinem Spaziergange in der Stadt lange auf seinem Zimmer geblieben. Er arbeitete damals gerade an einem größeren Werke über die Pflichten, das leider unvollendet geblieben ist. Zu diesem Zwecke sammelte er alles, was die Kirchenväter und andere Autoritäten über diesen bedeutungsvollen Gegenstand gesagt haben. Sein Buch zerfiel in zwei Theile; erstens die Pflichten Aller; zweitens die Pflichten des Einzelnen, je nach seinem Stande, Berufe, Alter, Geschlecht u. s. w. Die Pflichten Aller, lehrte er, sind die wichtigsten. Sie zerfallen in vier Unterarten, die uns Sankt Matthäus bezeichnet: die Pflichten gegen Gott (Ev. Matth. Kap. 6), gegen sich selbst (Ev. Matth. Kap. 5 V. 29 und 30), gegen den Nebenmenschen (Ev. Matth. Kap. 7 V. 12).

      Was die übrigen Pflichten anbelangt, so hatte der Bischof sie in andern Schriften der Bibel gefunden; die der Herrscher und Unterthanen in der Epistel an die Römer; die der Richter, der verheirateten Frauen, Mütter und jungen Männer, in der Epistel des heiligen Petrus; die der Ehemänner, Eltern, Kinder und Diener in der Epistel an die Epheser; die der Gläubigen in der Epistel an die Ebräer; die der Jungfrauen in der Epistel an die Korinther. Alle diese Vorschriften faßte er mit mühseligem Fleiße zu einem übersichtlichen Ganzen zusammen, das er den Gläubigen widmen wollte.

      An diesem Abend arbeitete er noch fleißig um acht Uhr und schrieb, ein großes offenes Buch über den Knieen, in unbequemer Haltung auf kleinen Zetteln, als Frau Magloire hereinkam, das Silbergeschirr aus dem Wandschrank zu holen. Ein Weilchen nachher, als er merkte, daß der Tisch gedeckt war und seine Schwester vielleicht auf ihn wartete, klappte er sein Buch zu, stand vom Tische auf und begab sich in das Speisezimmer.

      Es war dies ein rechteckiger Raum mit Kamin, Eingangsthür nach der Straße zu und einem Fenster, das auf den Garten hinausging.

      Frau Magloire hatte in der That schon gedeckt und plauderte, während sie im Zimmer hantierte, mit Fräulein Baptistine.

      Auf dem Tische, der sich nahe dem Kamin befand, stand eine Lampe und in dem Kamin brannte ein leidlich gutes Feuer.

      Man kann sich leicht eine Vorstellung machen von den beiden Frauen, die beide sechzig Jahre hinter sich hatten: Frau Magloire klein, gut beleibt, lebhaft; Fräulein Baptistine sanft, hager, schwächlich, etwas größer, als ihr Bruder, in einer Robe von flohfarbener Seide, wie es 1806 Mode war, die sie damals in Paris gekauft hatte, und die immer noch vorhielt. Um uns einer volksthümlichen Redewendung zu bedienen, – die aber trotz ihrer Kürze inhaltsvoller ist, als eine seitenlange Beschreibung, – so hatte Frau Magloire das Aussehen einer Bäuerin und Fräulein Baptistine das einer Dame. Frau Magloire trug eine in Röhrenfalten gelegte weiße Haube, um den Hals ein Sammetband mit einem goldnen Kreuz, auf dem ein Herz lag, dem einzigen Frauenjuwel übrigens, das sich im Hause befand. Bekleidet war sie mit einem schneeweißen Brusttuch, einem Kleide aus grobem schwarzen Wollstoff mit weiten kurzen Aermeln, einer roth und grün karrirten Kattunschürze, die mit einem grünen Bande um die Taille gebunden war, und deren gleichartiger Latz an den oberen Ecken durch zwei Stecknadeln festgehalten wurde. Dazu an den Füßen grobe Schuhe und gelbe Strümpfe, wie sie von den Frauen in Marseille getragen wurden. Fräulein Baptistines Robe war nach Mustern aus dem Jahre 1806 zugeschnitten; mit kurzer Taille, engem Rock, Achselbändern, Patten und Knöpfen. Ihre grauen Haare verbarg sie unter einer Kräuselperrücke à l'enfant. Frau Magloires Gesichtszüge ließen auf Klugheit, Lebhaftigkeit und Herzensgüte schließen; nach den ungleich aufgezogenen Mundwinkeln und nach der Oberlippe, die dicker war als die untere, zu urtheilen, mußte sie brummig und rechthaberisch sein. In der That führte sie Sr. Bischöflichen Gnaden gegenüber, wenn Dieselben schwiegen, eine bei allem Respekt freimüthige Sprache; aber sobald Sr. Gnaden das Wort ergriffen, gehorchte sie, wie wir schon oben gesehen haben, so passiv wie ihr gnädiges Fräulein. Fräulein Baptistine, that dann nicht einmal den Mund auf. Sie beschränkte sich darauf, zu gehorchen und ihrem Bruder zu Gefallen zu handeln. Auch in ihrer Jugend war sie nicht hübsch gewesen. Sie hatte große, blaue, hervorstehende Augen und eine lange, gebogene


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