Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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mit einer Gier hinunter, als wäre er nahe daran gewesen, vor Hunger umzukommen. Aber nach dem Abendessen sagte er:

      »Lieber guter Herrgottspfarrer, das ist alles noch viel zu gut für mich, aber das muß ich sagen, die Fuhrleute, die mich nicht wollten mitessen lassen, leben besser als Sie.«

      Unter uns gesagt, die Bemerkung hat mich verdrossen. Mein Bruder antwortete ihm:

      »Sie müssen sich auch mehr anstrengen, als ich.«

      »Nein,« meinte der Andre, »sie haben mehr Geld. Ich sehe wohl, Herr Pfarrer, Sie sind arm. Sie sind vielleicht noch nicht einmal Pfarrer? Wenn der liebe Gott gerecht wäre, müßten Sie Pfarrer sein.«

      »Der liebe Gott ist mehr als gerecht«, versetzte mein Bruder und fügte nach einer Weile hinzu:

      »Also nach Pontarlier gehen Sie, Herr Valjean?«

      »Mit Zwangspaß.«

      So sagte er, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt.

      Dann fuhr er fort:

      »Morgen bei Tagesanbruch muß ich schon unterwegs sein. Das Marschieren ist jetzt beschwerlich. Wenn die Nächte kalt sind, so ist es am Tage heiß.«

      »Sie kommen da in eine gute Gegend«, meinte mein Bruder. »Zur Zeit der Revolution ist meine Familie ruinirt worden, und ich habe mich damals zuerst nach der Franche-Comté geflüchtet, wo ich von meiner Hände Arbeit lebte. Ich hatte guten Willen und fand auch Beschäftigung. Man hat dort zu Lande die Wahl. Es giebt dort Papiermühlen, Gerbereien, Branntweinbrennereien, Oelmühlen, Uhrfabriken, Stahl- und Kupferfabriken, wenigstens zwanzig Eisenwerke, darunter vier sehr bedeutende in Lods, Châtillon, Audincourt und Beure.«

      Ich müßte mich sehr irren, wenn dies nicht die Namen sind, die mein Bruder anführte. Hierauf aber brach er ab und wandte sich an mich:

      »Liebe Schwester, haben wir nicht Verwandte in jener Gegend?«

      Ich antwortete:

      »Früher, ja! Unter Andern Herrn von Lucenet, Hauptmann bei den Thürgardisten zu Pontarlier vor der Revolution.«

      »Ganz richtig«, erwiderte mein Bruder, »aber 1793 war es mit den Verwandten nichts, da mußte man sich auf sich selber und auf seine gesunden Arme verlassen. Ich habe gearbeitet. Sie haben in der Gegend von Pontarlier, wo Sie hingehen, Herr Valjean, eine ganz patriarchalische und ganz gemüthliche Industrie, liebe Schwester, nämlich Käsereien.«

      Darauf setzte mein Bruder dem Manne, während er ihn zum Essen nöthigte, sehr ausführlich auseinander, wie die Käsereien eingerichtet sind.

      »Sie zerfallen in zwei Klassen«, erläuterte er. »Die großen, die den Reichen gehören, mit vierzig bis fünfzig Kühen, und die sieben bis acht Tausend Stück Käse pro Sommer liefern, und die kleinen, genossenschaftlich organisirten, die von den Armen gebildet werden. Zu diesen thun sich die Bauern aus dem Mittelgebirge zusammen und theilen den Gewinn. Sie engagieren einen Käser, der dreimal täglich von den Mitgliedern der Genossenschaft die Milch in Empfang nimmt und die Quantität auf einem doppelten Kerbholz markirt. Gegen Ende April fängt die Fabrikation an; Mitte Juni werden die Kühe auf die Berge getrieben.«

      Der Fremde wurde muntrer, während er aß. Mein Bruder schenkte ihm guten Mauves ein, von dem er selber nicht trinkt, weil es ein theurer Wein ist. Mein Bruder zeigte im Gespräche die Ihnen wohlbekannte Unbefangenheit und frohe Laune und richtete auch manche freundlichen Bemerkungen an mich. Auf die Beschäftigung des Käsers kam er oft zurück, als wollte er ihm aus zarte Weise zu verstehen geben, daß er sich so aus seiner Nothlage befreien könne. Eins ist mir noch aufgefallen. Ich habe Ihnen auseinandergesetzt, was das für ein Mensch war. Nun also, mein Bruder hat weder bei Tische noch überhaupt an dem ganzen Abend, mit alleiniger Ausnahme der Erwähnung Jesu Christi bei der Ankunft des Gastes, kein Wort fallen lassen, das den Mann erinnert hätte, wer er war, und ihn über den Stand meines Bruders belehrt hätte. Und es war doch eine schöne Gelegenheit, ein wenig Moral zu predigen und den Zuchthäusler seine bischöfliche Autorität nachdrücklichst fühlen zu lassen. Ein Andrer, der den Unglücklichen so in der Hand gehalten hätte, würde nicht blos getrachtet haben, ihm Nahrung für den Körper, sondern auch für die Seele zu spenden und hätte es für angemessen erachtet, ihm mit guten Rathschlägen und Ermahnungen gemilderte Vorwürfe zu machen oder hätte eine Aeußerung des Mitleids nebst einer Aufforderung sich fortan besser aufzuführen, fallen lassen. Mein Bruder dagegen fragte den Menschen nicht einmal nach seinem Geburtsorte oder seiner Lebensgeschichte. Denn seine Lebensgeschichte enthielt auch die Geschichte seines Vergehens, und mein Bruder ließ es sich offenbar angelegen sein, alles zu vermeiden, das Jenen an seine Schuld hätte erinnern können. Einmal sogar, als er von den Gebirglern bei Pontarlier sprach, deren Wohnungen dem Himmel nahe wären, die, weil schlicht und rechtschaffen, auch glücklich seien, brach er plötzlich seine Rede ab, aus Furcht, die ihm entschlüpfte Aeußerung könne seinem Gaste wehe thun. Ich habe hierüber gründlich nachgedacht und glaube jetzt zu verstehen, was in dem Herzen meines Bruders vorging. Er meinte offenbar, den Unglücklichen quäle der Gedanke an sein Elend auch ohnehin genug; es schien ihm geboten, ihm den Kummer zu verscheuchen, indem er ihn auf dieselbe Weise behandelte wie jeden Andern und ihn – wenn auch nur für einen Augenblick – in den Glauben wiegte, er wäre eben solch ein Mensch wie jeder Andre. Heißt das nicht die Pflicht der christlichen Liebe richtig verstehen, wenn man sich zartsinnig aller Moralpredigten und Anspielungen enthält und den wunden Punkt überhaupt nicht berührt? Dies war, dünkt mich, die Idee, von der sich mein Bruder leiten ließ. Allerdings hat er sich nichts merken lassen, auch mir gegenüber nicht. Er war durchaus derselbe, wie an jedem andern Abend und benahm sich Jean Valjean gegenüber ganz ebenso, als hätte er Hrn. Gédéon Le Prévost oder einen Landpfarrer zu Gaste gehabt.

      Zu Ende der Mahlzeit, als wir eben die Feigen verspeisten, klopfte es an die Thür. Es war Mutter Gerbaud mit ihrem Kinde auf dem Arm. Mein Bruder küßte den Kleinen auf die Stirn und lieh sich von mir fünfzehn Sous, die ich gerade bei mir hatte, um sie Mutter Gerbaud zu geben. Der Fremde achtete auf alles dieses nicht. Er sprach nicht mehr und schien recht abgespannt zu sein. Dann sagte mein Bruder, nachdem die arme, alte Gerbaud fortgegangen, das Dankgebet und wandte sich zu dem Gast mit den Worten: »Sie sehnen sich gewiß nach Ihrem Bett.« Frau Magloire deckte rasch ab und ich begriff, daß wir uns nach oben verfügen mußten, um ihn schlafen zu lassen. Indessen schickte ich Frau Magloire noch einmal hinunter mit einem Rehfell, das sie ihm auf sein Bett legte. Die Nächte sind eisig, und solch ein Fell hält warm. Schade, daß es so alt ist, die ganzen Haare fallen schon aus. Mein Bruder hat es zu der Zeit gekauft, wo er in Deutschland war, in Tottlingen, in der Nähe der Donauquellen, sowie auch das kleine Messer mit dem Elfenbeingriff, dessen ich mich bei Tische bediene.

      Frau Magloire kam sofort wieder herauf, wir beteten in dem Zimmer, wo die Wäsche getrocknet wird und zogen uns dann, ohne ein Wort zu sprechen, jede in ihre Kammer zurück.

      V. Furchtlose Seelenruhe

      Nachdem der Bischof seiner Schwester eine gute Nacht gewünscht, nahm er von dem Tische einen der beiden silbernen Leuchter, gab den andern seinem Gaste und sagte:

      »Herr Valjean, ich werde Sie jetzt nach Ihrem Schlafzimmer geleiten.«

      Der Fremde folgte ihm.

      Wie schon bemerkt, waren die Räume so eingerichtet, daß man, um in das Betzimmer und den Alkoven zu gelangen, durch das Schlafzimmer des Bischofs hindurch mußte.

      Als sie durch dieses Zimmer gingen, war Frau Magloire gerade im Begriff, das Silberzeug in dem, am Kopfende des Bettes befindlichen Wandschrank zu verschließen. Das war das Letzte, was ihr jeden Abend vor dem Schlafengehn zu thun oblag.

      Der Bischof führte seinen Gast in den Alkoven, wo ein frisch bezogenes Bett bereit stand. Der Fremde stellte seinen Leuchter auf ein Tischchen.

      »Nun schlafen Sie wohl,« sagte der Bischof. »Morgen früh, bevor Sie aufbrechen, sollen Sie noch eine Tasse ganz frische Milch bekommen.«

      »Danke, Herr Abt,« erwiderte der Gast.

      Kaum hatte er diese


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