Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


Скачать книгу
was sie »Gerechtigkeit« nannte. Die Menschen hatten sich um ihn nur bekümmert, um ihn zu martern. Bei jeder Berührung mit ihnen fiel ein Schlag auf ihn. Seit seiner Kindheit, seitdem er seine Mutter verloren, seitdem er von seiner Schwester getrennt war, nie war ihm ein freundliches Wort, nie ein wohlwollender Blick gespendet worden. Die endlosen Qualen befestigten in ihm schließlich die Ueberzeugung, das Leben sei ein Kampf, indem er den Kürzeren gezogen habe. Er hatte keine andre Waffe, als seinen Haß. Diese beschloß er im Gefängniß möglichst scharf zu machen und sie mitzunehmen, wenn er in die Welt hinausgehen würde.

      In Toulon gab es eine, von den Ignorantinern gehaltne Schule, wo den Sträflingen, die sich freiwillig dazu meldeten, das Notwendigste gelehrt wurde. Jean Valjean nahm an diesem Unterricht theil, und lernte im Alter von vierzig Jahren lesen, schreiben und rechnen. Er hatte die Empfindung, daß eine Stärkung seines Verstandes auch seinen Haß stärken würde. Bildung und Klugheit eignen sich nicht blos zur Förderung des Guten, sondern machen auch das Böse mächtiger.

      Leider richtete Jean Valjean nicht nur die Gesellschaft, die schuld an seinem Unglück war; er richtete und verurtheilte auch die Vorsehung, die die Gesellschaft geschaffen.

      Auf diese Weise schritt er während seiner neunzehnjährigen Qual und Sklaverei auf dem Wege der Erkenntnis sowohl vorwärts, als auch rückwärts. Auf der einen Seite drang Licht, auf der andern Finsternis in seine Seele.

      Jean Valjean, haben wir gesagt, war von Natur nicht schlecht. Als er ins Gefängniß kam, wer er noch gut. Er verurtheilte hier die Gesellschaft und fühlte, daß er bösartig, er verurtheilte die Vorsehung und fühlte, daß er gottlos wurde.

      An dieser Stelle ist es schwer, einige Fragen, die sich mit Gewalt vordrängen, zurückzuweisen.

      Aendert sich die menschliche Natur so vollständig und von Grund aus? Kann der Mensch, ein Geschöpf Gottes, das von Natur gut ist, durch Menschen in ein schlechtes Wesen umgewandelt werden? Kann die Seele durch die Ungunst des Schicksals ganz und gar umgemodelt werden? Kann das Herz eine Mißbildung erleiden und unter dem Druck eines übermäßigen Unglücks, unheilbar verunstaltet werden, wie das Rückgrat unter einem zu niedrigen Gewölbe? Glimmt nicht in jeder Menschenseele, glimmte nicht in Jean Valjeans Seele ein Funke, ein unzerstörbarer Bestandteil göttlichen Ursprungs, den das Gute beleben, zu strahlendem Glanze anfachen, das Böse aber nie vollständig auslöschen kann?

      Die letzte dieser gewichtigen und schwierigen Fragen hätte wohl jeder Physiologe negativ beantwortet, und ohne sich zu bedenken, hätte er zu Toulon in den Ruhestunden, wenn Jean Valjean sich in seine Gedanken vertiefte, ihn gesehen, diesen trübseligen, ernsten, schweigsamen Galeerensklaven, diesen Paria der Gesetze, der auf die Menschen mit Zorn, diesen von der Civilisation Verstoßenen, der zum Himmel mit Unwillen emporblickte.

      Sicherlich – wir können es uns nicht verhehlen – würde ein beobachtender Physiologe dieses Uebel für unheilbar erklärt haben; er hätte vielleicht diesen Kranken, der sein Leiden dem Gesetz verdankte, beklagt, aber eine Kur hätte er nicht versucht; er würde seinen Blick von den Abgründen abgewendet, die ihm aus dieser Seele entgegengähnten und wie Dante am Thor der Hölle, für dieses Dasein, das Wort »Hoffnung« ausgestrichen haben, das doch Gottes Finger auf die Stirn jedes Menschen geschrieben hat.

      War sich Jean Valjean über seinen Seelenzustand so vollkommen klar, wie unsere Leser, wenn es uns gelungen ist, ihn richtig zu schildern? Erkannte er deutlich nach ihrer Entstehung alle die Stücke, welche die Bestandtheile seines sittlichen Elends bildeten? Hatte sich dieser rohe und unwissende Mensch klare Rechenschaft darüber gegeben, vermöge welcher Reihenfolge von Ideen er zu den öden, trostlosen Anschauungen gelangt war, die seinen geistigen Horizont einengten? War er sich dessen bewußt, was alles in ihm vorgegangen war und sich gegenwärtig in ihm regte? Diese Fragen wagen wir nicht zu beantworten; ja mir glauben, daß es nicht der Fall war. Es steckte zu viel Unwissenheit in Jean Valjean, als daß, selbst nach so viel Leiden, keine Unklarheit in ihm zurückgeblieben wäre. Zeitweise wußte er nicht einmal genau, was er eigentlich empfand. Jean Valjeans Geist war in Finsternis gehüllt und diese Finsternis verschleierte ihm sein Unglück sowohl, wie seinen Haß: Er haßte, sozusagen, blindlings darauf los. Er lebte und webte in diesem Dunkel, in dem er wie ein Blinder und Träumer umhertappte. Von Zeit zu Zeit nur, wenn urplötzlich in seinem Innern der Zorn wild auswallte, oder von außen ein neues Unglück über ihn hereinbrach, flammte in seiner Seele ein Licht auf und zeigte ihm all' die Schrecknisse des schaurigen Weges, auf dem er vom Schicksal verdammt war, durch dieses Erdenleben zu wandern.

      War das Licht erloschen, so umgab ihn wieder finstere Nacht und er wußte nicht mehr, wo er war.

      Eine Besonderheit der erbarmungslosen, also verthierenden Strafen besteht darin, daß sie den Menschen dumpf und stumpf machen, ihn verdummen und verwildern, ja bisweilen in ein reißendes Thier verwandeln. Daß in der That eine solche Veränderung einer Menschenseele dem Gesetz auf Rechnung zu setzen ist, beweisen zur Genüge Jean Valjeans wiederholte und hartnäckige Fluchtversuche. Er hätte dieselben, so hoffnungslos und unsinnig sie auch waren, immer wieder erneuert, so oft sich eine Gelegenheit bot, ohne einen Augenblick an die Folgen und die vorigen schlechten Erfahrungen zu denken. Er riß so ungestüm aus, wie der Wolf, der seinen Käfig offen findet. Der Instinkt rief ihm zu: »Lauf weg!« Die Vernunft hätte geboten: »Bleibe hier!« Aber einer starken Versuchung gegenüber schwieg die Ueberlegung und es blieb nur der thierische Instinkt übrig. War der Flüchtling dann wieder eingefangen, so hatten die neuen Strafen nur die Folge, daß sie seinen Sinn noch mehr verwirrten und verstörten.

      Noch müssen wir erwähnen, daß ihm an Körperkraft kein einziger seiner Leidensgefährten nahe kam. Galt es ein Tau zu spinnen, eine Winde zu drehen, so leistete Jean Valjean so viel, wie vier Mann zusammengenommen. Er konnte ungeheure Lasten heben und auf dem Rücken tragen und ersetzte gelegentlich eine Wagenwinde. Eines Tages, als der Balcon des Rathhauses zu Toulon reparirt wurde, gab eine der wunderbar schönen Karyatiden von Puget, die jenen Balcon tragen, nach und drohte herunter zu fallen. Da trat Jean Valjean, der gerade zugegen war, heran und hielt die Karyatide mit seinen Schultern fest, bis die Arbeiter kamen.

      Seine körperliche Gewandtheit übertraf noch seine Kraft. Manche Zuchthäusler, die unausgesetzt auf Flucht sinnen, bilden die Verbindung der Kraft und Geschicklichkeit zu einer wahren Wissenschaft aus. Tagtäglich wird eine geheimnisreiche Statik von den Gefangenen ausgeübt, die ewig mit Neid an den Flug der Fliegen und der Vögel denken. An einer senkrechten Fläche emporklimmen, Stützpunkte finden, wo ein Andrer kaum eine Unebenheit sieht, war für Jean Valjean ein Spiel. Er brachte es fertig in einer Ecke, indem er seine Rücken- und Kniemuskeln spannte, Ellbogen und Hacken in die schwachen Vertiefungen des Steins stemmte, sich bis zu dem dritten Stock eines Gebäudes hinaufzuziehen. Manchmal hatte er so das Dach des Gefängnisses erreicht.

      Er sprach wenig und lachte noch seltner. Es bedurfte einer besondern Erregung, um ihn zum Lachen zu bringen. Dann war es, als höre man den Wiederhall eines grausigen Dämonengelächters. Für gewöhnlich sah er aus, wie wenn er eine schreckliche Erscheinung betrachte.

      Dies war auch, im Grunde genommen, der Fall.

      Neben den krankhaften Einbildungen, die ihm sein unausgebildeter und geängstigter Verstand vorspiegelte, drängte sich ihm die Vorstellung auf, daß etwas Ungeheuerliches auf ihm laste. In dem geistigen Halbdunkel, in dem er umherkroch, sah er jedes Mal, wenn er den Hals umwendete und den Blick emporrichtete, mit Wuth und Schrecken Gesetze, Vorurtheile, Menschen und Thatsachen zu einem unendlich hohen, grausig steilen Berge aufgeschichtet, dessen Umrisse sich seinem Blick entzogen, dessen Umfang ihn entsetzte, und der nichts Andres war, als was wir die Civilisation nennen. In diesem formlosen Wirrwarr unterschied er, bald in der Nähe, bald in der Ferne und auf unnahbaren Höhen, irgend eine lebhaft beleuchtete Gruppe oder Einzelerscheinung, wie den Profoß mit seinem Stock, den Gendarmen mit seinem Säbel, den Erzbischof mit der Mitra und ganz oben, von grellem Licht Übergossen, den Kaiser mit der Krone auf dem Haupte. Ihm däuchte, diese fernen Glanzgestalten machten die Nacht um ihn, statt sie zu erhellen, noch grausiger und dunkler. Alles dies, Gesetze, Vorurtheile, Thatsachen, Menschen, Institutionen, bewegte sich über ihm hin und her, nach jenen verwickelten und geheimnisvollen Gesetzen, die Gott der Civilisation vorgeschrieben hat, schritt über ihn hinweg und erdrückte ihn, ruhevoll und gemüthlich bei


Скачать книгу