Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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Unteralpen herrscht, ein braunwollenes Hemd, dessen Aermel bis zu den Handgelenken hinabreichten. Sein Kopf war nach oben gewendet; die mit dem Bischofsring geschmückte Hand hing aus dem Bett heraus. Aus allen Zügen seines edlen Antlitzes leuchtete klare Heiterkeit, Hoffnung, Seelenfriede, als schaue er im Schlafe den Himmel. Und ein Himmel war es ja auch, der sich auf seinem Antlitz abspiegelte: Sein Gewissen.

      In dem Augenblick, wo sich das Mondlicht mit dieser innern Klarheit paarte, war der schlafende Bischof wie von einem Glorienschein umwoben. Aber dieses Licht war ein mildes, gedämpftes und die Umgebung, der Mond am Himmel, die schlummernde Landschaft, die Stille des Hauses standen in feierlich harmonischem Einklang mit dem majestätischen Anblick, den der hehre Greis in seinem kindlich festen Schlafe den Augen des Betrachters darbot.

      Jean Valjean, der nie Aehnliches gesehen, dem eine solche friedfertige Sorglosigkeit unfaßbar war, starrte unbeweglich, mit Erstaunen, auf den Schlafenden. Er war empfänglich für das Erhabene, das Schöne, und seine Haltung sowohl, wie seine Mienen verriethen, daß dieses Schauspiel einen tiefen Eindruck auf sein Gemüth machten. Aber welches seine Gedanken waren, ließ sich nicht muthmaßen. Er konnte ebenso gut überlegen, ob er dem Greise den Schädel einschlagen, oder ihm die Hand küssen solle.

      Nach einer kurzen Weile nahm er mit der linken Hand seine Mütze ab und ließ sie ebenso langsam wieder sinken. Dann versank er wieder in die Betrachtung des unerklärlichen Schauspiels, die Mütze in der linken, die eiserne Stange in der rechten Hand.

      Plötzlich stülpte er die Mütze wieder auf den Kopf, ging hastig, ohne den Bischof anzusehen, das Bett entlang, auf den Wandschrank zu und setzte das Eisen an, um das Schloß aufzubrechen. Da bemerkte er, daß der Schlüssel darin steckte, schloß den Schrank auf, nahm den Korb mit dem Silberzeug heraus, ging mit raschem Schritt und ohne Obacht zu geben, ob er auch keinen Lärm machte, auf die Thür zu, in das Betzimmer zurück, riß das Fenster auf, packte seinen Stock, schwang sich über die Brüstung, steckte das Silberzeug in seinen Tornister, warf den Korb weg, rannte durch den Garten, sprang wie ein Tiger über die Mauern und eilte davon.

      XII. Der Bischof bei der Arbeit

      Beim Sonnenaufgang, als der Bischof in seinem Garten spazieren ging, kam Frau Magloire mit verstörtem Gesicht herbeigeeilt.

      »Bischöfliche Gnaden, wissen Bischöfliche Gnaden, wo der Korb mit dem Silbergeschirr ist?«

      »Ja«, sagte der Bischof.

      »Gott und der Heiland sei gepriesen! Ich wußte nicht, wo er hingekommen war.«

      Der Bischof hatte den Korb auf einem Beet gefunden und reichte ihn jetzt der Magd.

      »Hier ist er.«

      »Ja, wo ist denn aber das Silberzeug?«

      »Ach, das Silbergeschirr wollen Sie haben? Ja, wo das ist, weiß ich nicht.«

      »Herr des Himmels, es ist gestohlen! Der Fremde hat es gestohlen!«

      Im Handumdrehen eilte die flinke Alte in das Betzimmer und den Alkoven, und wieder zu ihrem Herrn zurück. Der Bischof stand gebückt und betrachtete seufzend eine Staude Löffelkraut, die unter dem Korb zerknickt worden war. Bei dem Geschrei, das Frau Magloire erhob, richtete er sich auf.

      »Bischöfliche Gnaden, der Mann ist fort! Das Silber ist gestohlen.«

      Zu gleicher Zeit fiel ihr Blick auf eine Ecke des Gartens, wo aus der Zinne der Mauer ein Stück abgebrochen war.

      »Da, sehen Sie! Da ist er hinübergeklettert, in die Rue Cochefilet! O diese Schändlichkeit! Er hat uns unser Silberzeug gestohlen!«

      Der Bischof verharrte eine Weile in seinem Stillschweigen; dann richtete er seine ernsten Augen auf Frau Magloire und fragte mit sanfter Stimme:

      »Gehörte denn das Silber uns?«

      Frau Magloire war sprachlos. Wieder trat eine Pause ein, dann hob der Bischof wieder an:

      »Frau Magloire, dieses Silberzeug habe ich mit Unrecht und viel zu lange zurückbehalten. Es gehörte den Armen. Unser Gast war doch gewiß ein Armer.«

      »Du lieber Himmel! Ich sage es ja nicht meinetwegen und nicht wegen dem gnädigen Fräulein. Uns ist es ja egal. Aber Bischöfliche Gnaden! Woraus sollen denn Bischöfliche Gnaden jetzt speisen?«

      Der Bischof sah sie erstaunt an.

      »Als wenn es keine zinnernen Bestecke gäbe!«

      Frau Magloire zuckte die Achseln.

      »Zinn riecht schlecht.«

      »Dann kaufen wir eiserne.«

      »Eisernes Geschirr hinterläßt einen Nachgeschmack.«

      »Gut, dann nehmen wir hölzerne.«

      Gleich darauf frühstückte er an demselben Tische, an den sich am Abend zuvor Jean Valjean gesetzt hatte, und während seine Schwester schwieg und Frau Magloire brummte, bemerkte er vergnügt, es bedürfe keines Löffels und keiner Gabel, auch keiner hölzernen, um ein Stück Brod in Milch zu tauchen.

      »Nein, so was!« brummte Frau Magloire, während sie im Zimmer hantierte. »Einen solchen Menschen bei sich zu beherbergen! Und so dicht neben sich! Ein wahres Glück, daß er blos gestohlen. Erbarmen! Wenn man denkt, was hätte passieren können!«

      Eben wollte der Bischof und seine Schwester sich von der Tafel erheben, als an die Thür geklopft wurde.

      »Herein!« rief der Bischof.

      Die Thür that sich auf und vier Menschen erschienen auf der Schwelle. Drei davon waren Gendarmen, die den Vierten, Jean Valjean, beim Kragen gepackt hielten. Auch ein Gendarmerie-Wachtmeister war zugegen. Er trat vor und salutierte militärisch den Bischof.

      »Ew. Bischöfliche Gnaden« ... begann er. Bei diesen Worten stutzte Jean Valjean, der düster und niedergeschlagen schien:

      »Ew. Bischöfliche Gnaden! Dann ist es ja nicht der Pfarrer!«

      »Maul gehalten!« herrschte ihn ein Gendarm an.

      Unterdessen hatte sich der Bischof erhoben und kam, so rasch es ihm sein hohes Alter gestattete, heran.

      »Ah! Da sind Sie!« sagte er zu Jean Valjean. »Das freut mich. Aber sagen Sie mal, ich hatte Ihnen die Leuchter auch geschenkt. Die sind gleichfalls von Silber und ihre zweihundert Franken wert. Warum haben Sie die nicht auch mitgenommen, so gut wie Ihre Bestecke?«

      Jean Valjean riß die Augen weit auf und betrachtete den ehrwürdigen Bischof mit Empfindungen, die keine Sprache wiedergeben kann.

      »Also, Bischöfliche Gnaden, ist es wahr, was der Mann zu uns gesagt hat? Wir sind ihm begegnet. Er sah aus wie Einer, der was begangen hat. Da haben wir ihn angehalten und visitiert. Er hatte dieses Silbergeschirr.«

      »Und er hat Ihnen gesagt,« fiel der Bischof ein, »daß ein alter Priester es ihm geschenkt hat, bei dem er übernachtete. Ich verstehe schon. Und Sie haben ihn hierher gebracht? Ja ja! Aber Sie haben Sich geirrt.«

      »Also,« fragte der Wachtmeister, »können wir ihn laufen lassen?«

      »Ohne Zweifel!«

      Die Gendarmen ließen Jean Valjean los, der zurücktrat.

      »Also darf ich wirklich gehen?« sagte er mit fast unartikulierter Stimme und als wäre er im Schlafe.«

      »Na, kannst Du denn nicht hören? Gewiß kannst Du gehen,« bestätigte einer der Gendarmen.

      »Guter Freund,« fuhr jetzt der Bischof wieder fort. »Hier, ehe Sie gehen, nehmen Sie die Leuchter.«

      Er holte die beiden silbernen Leuchter von dem Kaminsims und überreichte sie Jean Valjean. Die beiden Frauen sahen ihm dabei zu, ohne mit einem Wort, einer Gebärde, einem Blick Einspruch zu erheben.

      Jean Valjean zitterte an allen Gliedern. Er nahm mechanisch und mit irren Blicken die Leuchter in Empfang.

      »Und


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