Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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Sie verließen ihre Heimat. Die Kirche, in der sie gebetet, das Feld, auf dem sie gespielt, vergaß sie; Jean Valjean selber vergaß sie nach einigen Jahren. Die Wunde in seinem Herzen vernarbte einfach. Kaum daß er während seiner ganzen Sträflingszeit ein einziges Mal von seiner Schwester Nachricht bekam. Dies geschah, wenn ich nicht irre, zu Ende des vierten Jahres seiner Gefangenschaft. Auf welchem Wege diese Botschaft zu ihm gelangte, weiß ich nicht mehr. Irgend Jemand, der sie beide gekannt hatte, war seiner Schwester begegnet. Sie wohnte in Paris, in einer armseligen Straße bei der Kirche Saint-Sulpice, in der Rue du Geindre. Sie hatte nur noch das jüngste Kind, einen Knaben bei sich. Wo die anderen waren, wußte sie wohl selber nicht. Alle Morgen ging sie in eine Druckerei in der Rue Sabot, wo sie als Falzerin und Hefterin beschäftigt war. Sie mußte um sechs Uhr Morgens da sein, noch ehe im Winter der Tag anbricht. In demselben Gebäude war eine Schule, wo sie jeden Tag ihren siebenjährigen Jungen hinbrachte. Da sie aber um sechs Uhr in die Druckerei mußte und die Schule erst um sieben geöffnet wurde, so wartete das Kind auf dem Hofe eine Stunde lang im Finstern und in der Kälte. In die Druckerei wollte man ihn nicht hereinlassen, weil er im Wege sei. Die Arbeiter sahen des Morgens das arme kleine Wesen, wie es kaum fähig die Augen aufzuhalten vor Müdigkeit, auf dem Pflaster saß, oder über seinen Korb gebeugt, in einer Ecke schlief. Wenn es regnete, erbarmte sich seiner die alte Portierfrau und ließ es herein in ihre armselige Wohnung, wo nur ein schlechtes Bett, ein Spinnrad und zwei Stühle standen. Da schlummerte das Kind in einer Ecke, dicht an die Katze geschmiegt, um nicht so zu frieren. Um sieben Uhr wurde die Schule aufgemacht, und der Kleine konnte hinein. Dies war es, was man Jean Valjean erzählte. Es war der einzige Blick, den er aus seinem Gefängniß auf das Schicksal seiner Lieben werfen durfte; dann hörte er nie wieder von ihnen sprechen.

      Gegen Ende des vierten Jahres wurde Jean Valjean die Gelegenheit geboten, zu entspringen. Seine Kameraden halfen ihm, wie dies in einem solchen Ort des Elends gewöhnlich ist. Er entkam und irrte zwei Tage lang frei umher – vorausgesetzt, daß man es Freiheit nennt, wenn Einer wie ein wildes Thier gehetzt wird, jeden Augenblick sich angstvoll umwendet, beim geringsten Geräusch zusammenschrickt, sich vor allem Möglichen fürchtet, vor einem rauchenden Schornstein, einem Menschen, der vorbeigeht, einem bellenden Hunde, einem galloppierenden Pferde, vor dem Stundenschlag der Kirchturmuhr, vor dem Tageslicht, weil er dabei gesehen werden kann, vor der Nacht, weil er dann nichts sieht, vor den Chausseen, den Wegen, den Gebüschen, vor dem Schlaf. Am Abend des zweiten Tages wurde Jean Valjean wieder eingefangen, nachdem er die sechsunddreißig Stunden hindurch weder gegessen noch geschlafen hatte. Das Seetribunal verurtheilte ihn wegen dieses Vergehens zu einer Verlängerung seiner Strafzeit um drei Jahre, so daß er im Ganzen acht Jahre zu verbüßen hatte. Im sechsten Jahre kam die Reihe zu entspringen abermals an ihn. Er machte wieder einen Versuch, gelangte aber nicht einmal ins Freie. Er hatte beim Namensruf gefehlt. Es wurde der übliche Signalschuß abgefeuert, und in der Nacht fand ihn die Runde unter dem Kiel eines im Bau begriffenen Schiffes und nahm ihn trotz seines heftigen Widerstandes fest. Also Flucht und Widersetzlichkeit. Dieser von dem Strafgesetzbuch vorgesehene Fall wurde mit fünf Jahren bestraft. Machte dreizehn Jahre. Im zehnten Jahr kam er wieder an die Reihe, benutzte auch die Gelegenheit, hatte aber wieder keinen Erfolg. Drei Jahr für diesen Versuch. Summa: sechzehn Jahre. Endlich wagte er es im dreizehnten Jahre, wenn ich nicht irre, noch einmal und richtete weiter nichts aus, als daß er nach einstündiger Abwesenheit, wieder dingfest gemacht wurde. Drei Jahre für die vier Stunden, Summa: neunzehn Jahre. Im Oktober 1815 wurde er aus dem Gefängniß entlassen, in das er 1796 eingesperrt worden war, weil er eine Fensterscheibe eingeschlagen und ein Brot gestohlen hatte.

      Eine kurze Anmerkung. Es ist das zweite Mal, daß dem Verfasser dieses Buches bei seinen Studien über die Strafgerechtigkeit die Entwendung eines Brodes als Ursache der Vernichtung einer menschlichen Existenz aufstößt, Claude Gueux hatte ein Brod gestohlen, Jean Valjean desgleichen. Laut einem statistischen Bericht ist in vier Fällen unter fünf der Diebstahl eine Folge des Hungers.

      Jean Valjean hatte das Gefängniß schluchzend und Verzweiflung im Herzen betreten; als er es verließ, war er ein harter, finstrer Mann geworden.

      Was war inzwischen in seiner Seele vorgegangen?

      VII. Wie es im Herzen eines Verzweifelten aussieht

      Versuchen wir es klar zu legen.

      Die Gesellschaft muß dergleichen Dinge ihrer Beachtung würdigen, denn sie giebt ja den Anlaß zu ihrer Entstehung.

      Jean Valjean war, wie schon erwähnt, ohne Bildung; aber doch auch kein Dummkopf. Seinem Verstand erleuchtete ein natürliches Licht. Das Unglück, das aufhellend wirkt, verstärkte dieses schon vorhandene Licht. Die Stockschläge, die Last der Kette, die Qualen der Zellenhaft, die Ueberarbeitung, die Härte seiner Lagerstätte zwangen ihn Einkehr in sein Gewissen zu halten und nachzudenken.

      Er unterwarf also seinen Fall einer sorgfältigen Prüfung und lud zunächst sich selber vor das Tribunal seines Gewissens.

      Als Resultat der Untersuchung ergab sich, daß er kein ungerecht bestrafter Unschuldiger war. Er gestand sich ein, daß er zu weit gegangen, daß er sich etwas Tadelnswerthes hatte zu Schulden kommen lassen. Man hätte ihm das Brod vielleicht nicht abgeschlagen, wenn er darum gebeten hätte. Er konnte warten, bis man es ihm aus Mitleid schenkte, oder er es mit seiner Hände Arbeit verdiente. Der Einwand, daß ein Hungriger nicht warten könne, war auch nicht stichhaltig. Denn es ist selten, das; ein Mensch wörtlich Hungers stirbt. Glücklicher oder unglücklicher Weise kann der Mensch viel aushalten, in moralischer und physischer Hinsicht, ohne zu sterben. Er hätte sich also gedulden sollen, was auch im Interesse der Kinder das Beste gewesen wäre. Es war eine Thorheit, daß er, schwach wie er als Einzelner war, gewaltthätig gegen die Gesellschaft wurde und sich einbildete, der Diebstahl werde ihn aus dem Elend retten. Auf dem Wege, der zur Schande führt, konnte er doch nicht aus dem Elend herauskommen! Kurz er sah ein, daß er nicht recht gethan hatte.

      Nun warf er die Frage auf, ob er allein schuld an seinem Unglück sei. Ob das nicht eine bedenkliche Sache war, daß es ihm, einem Arbeiter, an Arbeit, ihm, einem fleißigen Menschen, an Brod gefehlt habe. Ob ferner, nachdem das Vergehen begangen und eingestanden war, die Strafe nicht übertrieben hart ausfiel. Ob das Gesetz nicht zu weit gegangen in der Bestrafung, wie er in seiner Verschuldung. Ob nicht auf der einen Wagschale, derjenigen, auf der die Sühne lag, ein Uebergewicht vorhanden war. Ob nicht die übermäßige Härte der Strafe das Vergehen aufhob und nicht das Verhältnis umkehrte, so daß jetzt die richtende Gewalt die Stelle des Verbrechens einnahm, der Verurtheilte und Schuldige sich als derjenige Theil erwies, dem Unrecht widerfahren war, als Gläubiger, nicht mehr als Schuldner. Ob die Strafe, samt ihren, wegen der Fluchtversuche auferlegten Verschärfungen sich nicht schließlich zu einer Art Attentat des Stärkeren gegen den Schwächern, zu einem Verbrechen der Gesellschaft gegen ein Individuum zuspitzte, zu einem Verbrechen, das sich täglich wiederholte, das neunzehn Jahre lang begangen wurde.

      Er fragte sich auch, ob die Gesamtheit das Recht habe, die Folgen der unvernünftigen staatlichen Einrichtungen und der unerbittlichen Härten des Gesetzes dem Einzelnen aufzubürden, und einen armen Teufel in die Enge zu treiben zwischen einem Zuwenig und einem Zuviel, zu wenig Arbeit und zu viel Strafe.

      Ob es nicht eine Ungeheuerlichkeit sei, daß die Gesellschaft gerade die vom Zufall am wenigsten Begünstigten so behandle, also gerade diejenigen, die am meisten der Schonung bedürften.

      Nachdem er diese Fragen gestellt und gelöst, sprach er das Urtheil über die Gesellschaft.

      Es lautete, daß sie seines Hasses schuldig sei.

      Er machte sie für sein unglückliches Loos verantwortlich und sagte sich, er werde vielleicht sich nicht bedenken, eines Tages Rechenschaft von ihr zu verlangen. Er erklärte in seinem Innern, es bestehe kein Gleichgewicht zwischen dem Schaden, den er verursacht, und demjenigen, den man ihm, zugefügt hatte. Er zog endlich das Facit, daß seine Bestrafung zwar keine Ungerechtigkeit, wohl aber eine Unbilligkeit war.

      Der Groll kann thöricht und abgeschmackt sein, wer erzürnt ist, hat dazu nicht immer einen zulänglichen Grund; aber entrüstet ist man nur, wenn man in irgend einem Punkte Recht hat. Jean Valjean empfand Entrüstung.

      Ueberhaupt


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