Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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      Er hatte etwas über vier Stunden geschlummert. Seine Müdigkeit war vergangen. Es lag nicht in seiner Art, viel Zeit mit Schlafen hinzubringen.

      Er machte die Augen auf und ließ seine Blicke im Dunkeln um sich herumschweifen, dann schloß er sie, um wieder einzuschlafen.

      Wenn den Tag über vielerlei Gedanken und Gefühle den Geist bestürmt haben, kann man am Abend wohl einschlafen; erwacht man aber, so ist dies nicht mehr möglich. Das erste Mal kommt der Schlaf leichter, als das zweite. Diese Erfahrung machte jetzt auch Jean Valjean. Er konnte nicht wieder einschlafen und fing an nachzudenken.

      Er befand sich in einer Gemüthsverfassung, wo man nur verworrener Gedanken fähig ist. In seinem Hirn schwirrte alles hin und her und durcheinander; Altes und Neues nahm die mannigfaltigsten Gestalten und Proportionen an und verschwand dann wieder eben so rasch. Aber unter den vielen Gedanken, die seinen aufgeregten Geist beschäftigten, war einer, der sich beständig in den Vordergrund drängte und alle andern verscheuchte. Es war dies, um es sogleich zu sagen, die Erinnerung an die sechs silbernen Bestecke und den großen silbernen Löffel, die Frau Magloire auf den Tisch gebracht hatte.

      Dieses Silbergeschirr ließ ihm keine Ruhe. Es war da. In seiner nächsten Nähe. In dem Augenblick, wo er durch das Zimmer nebenan hindurchgekommen, hatte es die alte Magd in den Wandschrank, neben dem Kopfende des Bettes, gelegt. Diesen Schrank hatte er sich gut gemerkt. Rechts, vom Speisezimmer aus. Massives Silber. Und altes Silber. Man würde mindestens zweihundert Franken dafür kriegen.

      Eine ganze Stunde sann er so hin und hei, denn er gab sich einige Mühe, des bösen Gedankens Herr zu werden. Als es drei Uhr schlug, öffnete er die Augen wieder, richtete sich auf, tastete nach seinem Tornister, den er in eine Ecke des Alkovens gestellt hatte und blieb dann auf dem Bett sitzen.

      In dieser Haltung verharrte er einige Zeit, und wer ihn gesehen hätte, in diesem stillen Hause, wo Alles schlief, der hätte sich schwerlich eines Schauders erwehren können. Plötzlich bückte er sich, zog seine Schuhe aus und stellte sie leise auf die Strohmatte, die vor dem Bett lag, richtete sich wieder empor und fuhr in seiner Grübelei fort.

      Der abscheuliche Gedanke ließ sich nicht bannen. Er kam, ging, kam wieder; daneben aber hielt ihm seine Phantasie maschinenmäßig und mit unerklärlicher Hartnäckigkeit das Bild eines ehemaligen Leidensgefährten, Namens Brevet, vor die Seele. Dieser Brevet hatte Hosenträger mit nur einem Tragband, und das Mäandermuster dieses Tragbands tauchte beständig vor Jean Valjeans innern Augen auf.

      So hätte er vielleicht noch bis Tagesanbruch regungslos dagesessen, wenn die Uhr nicht geschlagen hätte, ein Viertel oder halb. Ihm war, als hieße das: »Vorwärts!«

      Er stand auf, zögerte noch einen Augenblick und horchte. Alles war still im Hause. Nun ging er mit kurzen Schritten gerade auf das Fenster zu. Die Nacht war nicht sehr dunkel; am Himmel schien der Vollmond, nur daß er ab und zu durch die vom Winde gejagten Wolken verdeckt wurde. Es fiel also in das Zimmer, auch wenn es draußen am dunkelsten war, noch ein dämmriges, fahles Licht, bei dem man die Gegenstände deutlich genug erkennen konnte. Am Fenster angelangt, sah Jean Valjean es genau an. Es war nicht vergittert, ging nach dem Garten hinaus und war, wie es dort zu Lande üblich ist, nur leicht verklinkt. Er öffnete es, aber da plötzlich ein kalter Luftzug in das Zimmer drang, machte er es eiligst wieder zu. Dann überschaute er aufmerksam den Garten. Eine weiße Mauer ringsherum, die ganz niedrig und leicht zu ersteigen war. Im Hintergrunde, jenseit der Mauer, gleichweit von einander abstehende Baumkronen, also war dort eine Allee oder eine mit Bäumen bepflanzte Straße.

      Nach Beendigung dieser Umschau machte er eine entschlossene Bewegung, kehrte in seinen Alkoven zurück, wühlte in seinem Tornister, entnahm ihm einen Gegenstand, den er auf das Bett legte, steckte seine Schuhe in eine von seinen Taschen, schnallte den Tornister wieder zu, lud ihn sich auf den Rücken, setzte seine Mütze auf, zog den Schirm tief herab, tappte sich zu der Ecke hin, wo sein Stock stand und stellte ihn an das Fenster, kam dann wieder zu dem Bett zurück und ergriff entschlossen den Gegenstand, den er vorhin dort hingelegt hatte. Es sah aus wie eine kurze, an dem einen Ende spießartig zugespitzte Eisenstange.

      In der Dunkelheit wäre es schwer gewesen zu erkennen, wozu dieses Eisen wohl dienen könne. Ob es ein Hebel war? Oder eine Keule?

      Beim Tageslicht hätte man gesehen, daß es ein von Bergleuten gebrauchtes Werkzeug war. Das spitze Ende war dazu bestimmt, in die Felsen gebohrt zu werden und das Gestein loszubrechen. Zu dieser Arbeit verwendete man auch die Sträflinge in Toulon.

      Jean Valjean nahm dieses Eisen in die rechte Hand und schlich mit verhaltnem Athem und leisen Schrittes auf die Thür zu, die in das Schlafzimmer des Bischofs führte. Sie stand halb offen. Der Bischof hatte sie nicht verschlossen.

      XI. Was er that

      Jean Valjean horchte. Kein Geräusch.

      Er stieß die Thür an.

      Mit dem Ende des Fingers, leicht, so leise und ängstlich, wie eine Katze.

      Die Thür gab dem Druck nach und wich geräuschlos etwas zurück.

      Er wartete einen Augenblick, stieß dann wieder die Thür an, dies Mal dreister.

      Sie gab abermals ohne Geräusch nach. Die Oeffnung war jetzt so weit, daß er hindurch gekonnt hätte. Aber neben der Thür, so daß er den Eingang versperrte, stand ein kleiner Tisch.

      Jean Valjean erkannte die Schwierigkeit. Die Oeffnung mußte durchaus erweitert werden.

      Er entschloß sich kurz und stieß wieder die Thür an, kräftiger, als die beiden ersten Male. Aber dieses Mal kreischte eine schlecht geölte Thürangel.

      Jean Valjean erschrak. Das Geräusch klang seinem Ohr so scharf und furchtbar, wie die Posaune des jüngsten Gerichts.

      In dem ersten Augenblick, wo der Schreck ihm alles phantastisch vergrößerte, bildete er sich beinahe ein, die Thürangel sei ein belebtes Wesen geworden, das bellen würde, wie ein Hund, um die Schläfer zu wecken und Hilfe herbeizurufen.

      Er blieb stehen, zitternd vor Angst, und fiel auf seine Fersen zurück. Das Blut hörte er in seinen Schläfen hämmern und seinen Athem mit der Gewalt eines Sturmes aus seiner Brust herauskommen. Es dünkte ihm unmöglich, daß der schreckliche Lärm nicht das ganze Haus in seinen Grundfesten erschüttert haben sollte, wie ein Erdbeben. Der Alte würde auffahren, die Frauen ein Geschrei erheben; dann mußte Hülfe kommen, und in höchstens einer Viertelstunde war die Stadt in Aufruhr, die Gendarmerie auf den Beinen. Er hielt sich für verloren.

      Er blieb stehen, wo er war, starr wie eine Bildsäule, regungslos.

      So verstrichen einige Minuten. Die Thür war weit aufgegangen. Er wagte es endlich, einen Blick in das Zimmer zu werfen. Nichts hatte sich geregt. Er lauschte. Alles war still im Hause. Das Geknarr der verrosteten Thürangel hatte Niemand aufgeweckt.

      Die erste Gefahr war vorbei, aber noch tobte ein heftiger Tumult in seinem Innern. Trotzdem ging er nicht zurück, so wenig, wie im ersten Augenblick, wo er geglaubt hatte, alles sei verloren. Entschlossen wollte er ein Ende machen. Er that einen Schritt vorwärts und befand sich in dem Zimmer.

      Hier unterschied das Auge verworrene, unbestimmte Gegenstände, in denen man am Tage auf dem Tisch verstreute Papiere, offene Folianten, Bücher, einen Lehnstuhl, auf dem Kleidungsstücke lagen, einen Betstuhl erkannt hätte, die aber jetzt sich nur als dunkle Winkel und Ecken, oder weiße Flächen darstellten. Vorsichtig schritt Jean Valjean weiter, indem er es sorgfältig vermied, an die Möbel anzustoßen. Im Hintergrunde ließ sich der gleichmäßige Athem des Bischofs vernehmen, der fest schlief.

      Plötzlich blieb Jean Valjean stehen. Er sah dicht vor sich das Bett. Er war dort früher angelangt, als er geglaubt hatte.

      Die Natur scheint bisweilen in den Gang der menschlichen Handlungen eingreifen, in entscheidungsvollen Augenblicken uns warnen, zum Nachdenken zwingen zu wollen. So zertheilte sich, gerade, als Jean Valjean vor dem Bett stehen blieb, eine große Wolke, die seit einer halben Stunde den Himmel verdunkelte, so zu sagen mit Zweck und


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