Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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nun mit der ganzen Kraft seiner Lunge.«

      Keine Antwort.

      Seine Stimme verhallte ohne Wirkung in dein weiten, leeren Raum.

      Ein eisiger Wind begann zu wehen und lieh den Dingen um ihn eine Art Leben, das etwas Grausiges hatte. Die Zweige der Bäume glichen mageren Armen, die wüthende Geberden machten.

      Er marschierte weiter, setzte sich dann wieder in Trab, blieb ab und zu still stehen und schrie mit furchtbarer, angstvoller Stimme in die Oede hinein: »Kleiner Gervais! Kleiner Gervais!«

      Hätte der Knabe ihn auch gehört, so würde er sich gefürchtet und sich nicht gezeigt haben. Aber er war gewiß schon weit fort.

      Endlich begegnete er einem Priester, der des Weges geritten kam. Jean Valjean ging auf ihn zu und fragte ihn:

      »Herr Pfarrer, haben Sie einen Jungen vorbeikommen sehen?«

      »Nein,« sagte der Priester.

      »Einen gewissen Gervais?«

      »Ich habe Niemand gesehen.«

      Er langte zwei Fünffrankenstücke aus seiner Geldtasche und gab sie dem Priester.

      »Herr Pfarrer, nehmen Sie dies für Ihre Armen. – Herr Pfarrer, ein kleiner Junge, ungefähr zehn Jahre alt, mit einem Murmelthier glaube ich, und einem Leierkasten. Ein Savoyarde, wissen Sie?«

      »Ich habe ihn nicht gesehen.«

      »Der kleine Gervais? Ist er nicht aus dieser Gegend? Können Sie's mir nicht sagen?«

      »Wenn es so ist, wie Sie sagen, so ist er ein Fremder; die ziehen blos so durch, und Niemand kennt sie.

      Jean Valjean griff heftig nach zwei andern Fünffrankenstücken und gab sie dem Priester.

      »Für Ihre Armen!«

      Dann schrie er wie ein Irrsinniger:

      »Herr Abt, lassen Sie mich arretieren. Ich bin ein Dieb.« Der Priester gab seinem Pferde die Sporen und ritt sehr erschrocken davon.

      Jean Valjean eilte in der Richtung weiter, die er zuerst eingeschlagen hatte.

      Auf diese Weise legte er eine große Strecke zurück, indem er sich fortwährend umsah, rief und schrie, aber er begegnete Niemandem. Zwei oder drei Mal rannte er auf etwas zu, das wie ein liegender oder hingekauerter Mensch aussah; aber es war nur Gestrüpp oder große Steine. Endlich blieb er an einem Kreuzweg stehen. Er ließ im Mondenlicht seine Blicke weithin schweifen und rief zum letzten Mal: »Kleiner Gervais! Kleiner Gervais! Kleiner Gervais!« Sein Ruf verhallte im Nebel, ohne auch nur ein Echo zu wecken. Dann rief er wieder, aber mit schwacher, kaum artikulierter Stimme: »Kleiner Gervais!« Es war die letzte Kraftanstrengung, der er fähig war; seine Kniegelenke knickten plötzlich unter ihm zusammen, als ob eine unsichtbare Macht ihn urplötzlich mit der Last seines bösen Gewissens niederdrücke; er sank erschöpft auf einen großen Stein nieder, die Fäuste in den Haaren und das Gesicht auf den Knieen, und rief: »Ich bin ein Elender!«

      Dann lief sein übervolles Herz über und er fing an zu weinen. Es war das erste Mal seit neunzehn Jahren. –

      Als Jean Valjean von dem Bischof entlassen worden war, fand er sich, wie schon erzählt, in eine neue Gedankenwelt versetzt. Er konnte sich nicht klar darüber werden, was in seiner Seele vorging. Er steifte sich hartnäckig gegen die christliche Milde des Bischofs. »Sie haben mir versprochen ein ehrlicher Mensch zu werden. Ich kaufe Ihnen Ihre Seele ab. Ich entziehe sie dem Geist des Bösen und weihe sie dem lieben Gott.« Diese Worte klangen ihm unablässig in den Ohren. Er setzte dieser himmlischen Nachsicht den Stolz entgegen, der gleichsam ein Bollwerk des Bösen in unserm Herzen ist. Er hatte eine gewisse Ahnung, daß die Verzeihung dieses Priesters der gefährlichste Angriff sei, den seine bösen Grundsätze bis jetzt auszuhalten gehabt hatten; daß seine Herzenshärte für immer die Oberhand behalten würde, wenn er dieser Milde Widerstand leistete; daß, wenn er nachgebe, er dem langjährigen Haß entsagen müsse, von dem sein Herz erfüllt war, und in dem er sich gefiel; daß er dieses Mal siegen oder besiegt werden müsse, und daß der Kampf zwischen seiner Bosheit und der Güte jenes Mannes ein gewaltiger und entscheidender sein werde.

      Von diesem neuen Gedanken erleuchtet, ging er wie ein Betrunkner, mit verstörten Augen, einher. Hatte er wohl einen deutlichen Begriff von dem Endresultat, das sein Erlebniß in Digne für ihn haben könnte? Flüsterte ihm eine Stimme zu, daß die Entscheidungsstunde seines Schicksals geschlagen habe, daß es für ihn keinen Mittelweg mehr gab, daß, wenn er fortan nicht der beste Mensch sein wolle, er der allerschlechteste sein werde, daß er sich zu noch höherer Vollkommenheit emporschwingen müsse, als der Bischof, oder noch tiefer sinken, als ein Zuchthäusler.

      Wieder drängen sich hier Fragen auf, die uns schon früher beschäftigt haben: Zog eine auch nur schattenhafte Ahnung von diesem Entweder – Oder durch seine Seele? Allerdings erzieht das Unglück den Verstand; indessen ist es zweifelhaft, ob Jean Valjean im Stande war, sich zu lichtvoller Klarheit über die erwähnten Punkte hindurchzuringen. Falls er diese Gedanken überhaupt hatte, so boten sie sich ihm in undeutlichen Umrissen dar und beunruhigten, quälten ihn nur. Als er der Finsterniß des Zuchthauses entronnen war, hatte der Bischof seiner Seele weh gethan, wie ein zu helles Licht den Augen wehethut. Das höhere Leben, das er fortan leben sollte, machte ihn zittern und zagen. Er wußte wirklich nicht mehr, woran er war. Wie eine Nachteule, die plötzlich die Sonne aufgehen sieht, so war der ehemalige Sträfling durch die Tugend geblendet.

      So viel ist sicher, – obschon er selbst es nicht inne wurde, – daß er schon nicht mehr derselbe Mensch daß alles in ihm verändert war, daß er den empfangenen Eindruck nicht mehr aus seinem Geiste verwischen konnte.

      In dieser Gemüthsverfassung war er dem kleinen Gervais begegnet und hatte ihm seine zwei Franken geraubt. Das Warum hätte er sicherlich selber nicht angeben können. War es die letzte Nachwirkung, die letzte Gegenwehr der schlechten Grundsätze, die er aus dem Zuchthaus mitgebracht, was man in der Statik die erworbene Kraft nennt? Dies war es in der That oder etwas noch Schlimmeres. Einfach ausgedrückt, nicht er hatte das Geldstück geraubt, nicht der Mensch, sondern die Bestie in ihm hatte aus Gewohnheit und Instinkt den Fuß darauf gesetzt, während sein klügeres Ich mit den neuen Ideen qualvoll rang. Als sein besseres Ich erwachte und sah, was die Bestie gethan hatte, fuhr Jean Valjean schaudernd zurück und schrie auf vor Entsetzen.

      Denn sonderbarer Weise und nur weil er sich gerade in dieser Seelenstimmung befand, hatte er, indem er dem Knaben das Geldstück vorenthielt, etwas gethan, dessen er schon nicht mehr fähig war.

      Wie dem auch sei, – diese letzte, schlechte Handlung übte auf ihn eine entscheidende Wirkung aus. Sie fuhr plötzlich durch das Chaos, das in seinem Geiste herrschte, hindurch und fegte es weg, sonderte das Dunkel und das Licht, wie die chemischen Reagentien, die eine trübe Mischung klären, indem sie ein Element niederschlagen und von dem andern trennen.

      Im ersten Augenblick, noch ehe er sich prüfte und überlegte, bemühte er sich in sinnloser Angst, wie Einer, der sich aus einer Gefahr retten will, den Knaben wieder einzuholen, um ihm das Geld wiederzugeben; dann, als er erkannte, daß dies vergeblich und unmöglich war, erfüllte ihn die qualvollste Verzweiflung. Jetzt wurde er inne, was für ein Mensch er gewesen, jetzt hatte er sich schon von seinem frühern Ich geschieden, das ihm so zu sagen, wie eine Spukgestalt gegenüberstand. Es war ihm, als sehe er jetzt den ehemaligen Jean Valjean leibhaftig vor sich, mit dem Stock in der Hand, dem Kittel, dem Tornister mit den entwendeten Sachen, dem entschlossenen, finstern Gesicht und dem Zukunftsplan im Kopfe.

      Das Uebermaß des Unglücks hatte ihn, wie schon bemerkt, gewissermaßen hellseherisch gemacht, und sein Hirn befand sich in jenem Zustand gewaltsamer Aufregung, wo die Phantasie die Wirklichkeit verdrängt. Man sieht dann nicht mehr die Gegenstände, die man vor sich hat, sondern es projicieren sich umgekehrt die, von der eignen Einbildungskraft erzeugten Gestalten nach außen.

      Er betrachtete sich also, so zu sagen, von Angesicht zu Angesicht; zu gleicher Zeit erschaute er aber, durch die Erscheinung hindurch, in einer unergründlichen Tiefe ein Licht, das ihm anfangs von einer Fackel auszustrahlen schien. Als er dieses Licht aufmerksamer


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