Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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      »Das ist was Andres.« Dann fahren Sie aber trotzdem bis zur Herberge zurück und holen Sie Sich noch ein Pferd zur Aushülfe. Sie können sich dann auch ein Stück führen lassen.«

      Madeleine befolgte den Rath, kehrte um und kam eine halbe Stunde später an derselben Stelle wieder vorüber, aber in schnellem Trabe und mit einem guten Aushülfspferde. Ein Stallknecht der sich Postillon titulierte saß auf der Deichsel.

      Indessen merkte Madeleine, daß die Zeit verging.

      Schon war es finstre Nacht.

      Sie fuhren in den Querweg hinein, der schlecht im Stande war. Der Wagen stürzte von einem Geleise in's andre. Madeleine feuerte den Postillon an:

      »Immer Trab und doppeltes Trinkgeld.«

      Da zerbrach in Folge eines heftigen Stoßes das Ortscheit.

      »Mein Herr, ich weiß nicht mehr, wie ich mein Pferd anspannen soll. Auf diesem Wege führt es sich sehr schlecht bei Nacht; wenn Sie in Tinques übernachten wollen, können wir morgen in aller Frühe in Arras sei.«

      »Hast Du einen Strick und ein Messer?« erwiederte er.

      »Ja, mein Herr.«

      Er schnitt einen Baumast ab und machte sich daraus ein Ortscheit zurecht.

      So wurden wieder zwanzig Minuten Zeit versäumt; aber sie konnten nun im Galopp die Fahrt fortsetzen. Die Ebene war in Dunkelheit gehüllt. Ein niedriger kurzer und schwarzer Nebelstreifen lagerte auf den Hügeln und stieg stellenweise wie Rauchwolken empor. In den Wolken sah man hie und da weißliche, lichte Flecken. Ein starker Seewind rumorte überall am Horizont, als fuhrwerke er mit großen Möbeln herum. Alles, was man bemerken konnte, sah graulig aus. Womit treibt auch nicht der gewaltige Nachtwind sein Spiel!

      Die Kälte drang ihm bis in's Mark. Seit dem Tage vorher hatte er nichts gegessen. Es fiel ihm wieder jene Nacht ein, wo er ziellos über die große Ebene bei Digne hin und hergeirrt war. Das war acht Jahre her, und es kam ihm vor, als sei es gestern gewesen.

      Aus der Ferne ließ sich eine Thurmuhr hören.

      »Was schlägt die Uhr?« fragte er den Stallknecht.

      »Sieben, mein Herr. Um acht sind wir in Arras. Wir haben nur noch drei Meilen zurückzulegen.«

      Erst jetzt fiel ihm ein – und er wundert! sich, daß er nicht früher auf den Gedanken gekommen war –. Daß all die Mühe vielleicht umsonst aufgewandt wäre; daß er nicht einmal wußte, zu welcher Stunde die Verhandlung des Prozesses angesetzt war; daß er sich danach hätte erkundigen sollen; daß er thöricht sei, so darauf los zu fahren, ohne danach zu fragen, ob es auch einen Zweck habe. Dann rechnete er: Gewöhnlich fingen die Sitzungen des Schwurgerichts um neun Uhr Vormittags an. Die Verhandlung der Anklage wegen des Apfeldiebstahls konnte nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Dann kam die Feststellung der Personalien an die Reihe, vier bis fünf Zeugen zu vernehmen, die Reden des Staatsanwalts und des Vertheidigers, die alle Beide nicht viel zu sagen haben würden. Kurz er rechnete aus, daß er erst nach Beendigung der Verhandlung eintreffen würde.

      Der Postillon trieb die Pferde zu noch größerer Eile an. Sie waren über den Fluß gefahren und hatten Mont-Saint-Eloy hinter sich.

      Die Nacht wurde immer dunkler.

      VI. Schwester Simplicia wird auf die Probe gestellt

      Mittlerweile schwamm Fantine in einem Meer von Wonne.

      Sie hatte die Nacht schlecht zugebracht. Heftige Anfälle von Husten, stärkeres Fieber, wüste Träume. Am Morgen, als der Arzt kam, phantasirte sie. Er machte eine sehr ernste Miene und bat, daß man ihn sofort benachrichtigen möchte, sobald Herr Madeleine kommen würde.

      Den ganzen Vormittag war sie trübsinnig, sprach wenig und fältelte ihr Laken, indem sie dabei Rechnungen – wahrscheinlich von Entfernungen – anstellte. Ihre Augen waren tief eingesunken und starr. Sie schienen fast erloschen, flammten aber von Zeit zu Zeit stark auf und glänzten wie Sterne; als erfüllte sie, je mehr sie sich dem irdischen Licht unzugänglich wurden, himmlische Klarheit.

      Jedes Mal wenn Schwester Simplicia sich nach ihrem Befinden erkundigte, antwortete sie: »Mir geht es gut. Nur möchte ich Herrn Madeleine sehen.«

      Vor einigen Monaten, damals, als Fantine des letzten Ueberbleibsels ihrer Erden- und Daseinsfreude verlustig ging, glich sie nur noch einem Schatten von dem was sie vor Zeiten gewesen, jetzt war ihr Anblick ein Schrecken erregender. Die körperlichen Leiden hatten das Werk, daß die moralischen begonnen, vollendet. Diese Fünfundzwanzigjährige besaß eine runzlige Stirn, welke Wangen, zusammengefallene Nasenlöcher, eingeschrumpftes Zahnfleisch, einen bleifarbnen Teint, einen knochigen Hals, magre Arme und Beine, eine glanzlose Haut, und ihre blonden Haare waren mit grauen vermischt. Ach! wie sehr ähnelt doch die Krankheit dem Alter.

      Um zwölf kam der Arzt wieder, schrieb einige Rezepte, erkundigte sich, ob der Herr Bürgermeister in den Krankensaal gekommen sei, und schüttelte den Kopf.

      Madeleine besuchte die Patientin gewöhnlich gegen drei Uhr Nachmittags. Da Pünktlichkeit seinerseits sie glücklich machte, so war er pünktlich.

      Gegen halb drei wurde Fantine unruhig. Sie fragte in zwanzig Minuten die Nonne mehr als Zehn Mal: »Schwester, wieviel Uhr ist es?«

      Endlich schlug es drei Uhr. Beim dritten Schlage richtete sie sich, die sich für gewöhnlich vor Schwäche kaum zu rühren vermochte auf, faltete krampfhaft ihre fleischlosen, gelben Hände, und die Nonne hörte sie so stark aufseufzen, als wolle sie eine Last von ihrer Brust wälzen. Dann wandte sie sich seitwärts und heftete ihre Augen auf die Thür.

      Es kam Niemand, die Thür that sich nicht auf.

      So saß sie, regungslos, als athmete sie kaum, die Augen unverwandt auf die Thür gerichtet. Die Schwester wagte nicht zu ihr zu sprechen. Da schlug es ein Viertel auf vier, und Fantine ließ den Kopf wieder auf das Kissen zurücksinken.

      Sie sprach kein Wort und fing wieder an, Falten in ihr Laken zu machen.

      Es schlug halb, dann voll. Niemand kam. Jedes Mal, wenn die Kirchturmuhr sich vernehmen ließ, richtete sich Fantine auf, blickte nach der Thür und sank dann wieder auf ihr Kissen zurück.

      An wen sie dachte, ließ sich leicht errathen, aber sie nannte seinen Namen nicht, klagte nicht, tadelte nicht. Nur, daß sie schrecklich hustete. Tiefe Trübsal hatte sie befallen. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und ihre Lippen waren blau. Zeitweise lächelte sie.

      Als es fünf Uhr schlug, hörte die Schwester, wie sie sanft vor sich hin flüsterte: »Da ich morgen fort muß, könnte er doch heute noch einmal kommen!«

      Schwester Simplicia selber wunderte sich, daß Madeleine nicht kam. A

      Jetzt schaute Fantine zu ihrem Betthimmel empor und schien sich auf etwas zu besinnen. Dann sang sie plötzlich mit schwacher Stimme ein Wiegenlied, womit sie ehedem ihre kleine Cosette in den Schlaf gesungen und an das sie seit fünf Jahren nicht mehr gedacht hatte. So schwermüthig sanft klang das Lied in ihrem Munde, daß der an Leid Und Jammer gewöhnten Nonne Thränen in die Augen traten.

      Nun schlug es sechs Uhr. Fantine achtete aber nicht darauf. Sie schien Alles, was sie umgab, vergessen zu haben.

      Schwester Simplicia aber trug einer Magd auf, sich bei der Portierfrau zu erkundigen, ob der Herr Bürgermeister nach Hause gekommen sei und ob er nicht bald in den Krankensaal hinaufkommen würde. Die Magd kam nach einigen Minuten zurück und erzählte, während Fantine unbeweglich da lag und ihren Gedanken nachzugehen schien, der Schwester Simplicia: der Herr Bürgermeister wäre heute Morgen vor sechs Uhr, trotz der Kälte, in einem, mit einem Schimmel bespannten Tilbury fortgefahren, ganz allein, ohne Kutscher. Man wüßte nicht, wohin. Einige sagten, er hätte den Weg nach Arras eingeschlagen; Andere versicherten, sie wären ihm auf der Landstraße nach Paris begegnet. Bei seinem Weggange wäre er so wie sonst gewesen, sehr leutselig und hätte nur zur Portierfrau gesagt, man solle ihn heute Nacht nicht erwarten.

      Während


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