Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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sage, es ist ein wahres Wunder, daß Sie fünf Meilen gefahren und daß Sie sammt Ihrem Pferde nicht im Chausseegraben zu liegen gekommen sind. Sehen Sie mal her.«

      Das Rad war allerdings stark beschädigt. Zwei Speichen waren entzwei und die Schraube, mit der die Nabe an die Achse befestigt war, saß nicht mehr fest.

      »Guter Freund«, erkundigte sich Madeleine, »giebt es hier einen Stellmacher?«

      »Gewiß, mein Herr.«

      »Erweisen Sie mir den Gefallen und holen Sie ihn.«

      »Er wohnt nebenan. Heda! Meister Bourgaillard!«

      Meister Bourgaillard, der Stellmacher, stand gerade auf der Schwelle seiner Thür. Er kam, untersuchte das Rad und machte dabei eine Grimasse, wie ein Chirurg, der ein gebrochenes Bein ansieht.

      »Können Sie dieses Rad auf der Stelle ausbessern?«

      »Ja, mein Herr.«

      »Wann werde ich weiter fahren können?«

      »Morgen.«

      »Morgen?«

      »Ja, die Reparatur wird reichlich einen Tag Arbeit kosten. Hat der Herr Eile?«

      »Große Eile. Ich muß spätestens in einer Stunde wieder aufbrechen.«

      »Das geht nicht, mein Herr.«

      »Ich bezahle, was verlangt wird.«

      »Es geht nicht.«

      »Nun dann gebe ich Ihnen zwei Stunden Zeit.«

      »Heute geht's nicht mehr. Es sind zwei Speichen und eine Nabe zu repariren. Vor morgen früh kann der Herr nicht fahren.«

      »Mein Geschäft duldet keinen Aufschub bis morgen. Statt das Rad auszubessern, könnte man es nicht durch ein anderes ersetzen?«

      »Wie denn?«

      »Sie sind Stellmacher?«

      »Gewiß, mein Herr.«

      »Haben Sie kein Rad, das Sie mir verkaufen könnten? Dann brauchte ich die Fahrt nicht zu unterbrechen.«

      »Ich habe kein Rad vorräthig, das zu ihrem Wagen passen würde. Zu einem Paar gehören zwei Räder. Ein einzelnes Rad paßt nicht so leicht zu einem beliebigen andern.«

      »Gut. Dann verkaufen Sie mir ein Paar.«

      »Alle Räder passen nicht zu allen Achsen.«

      »So versuchen Sie's doch.«

      »Das hätte keinen Zweck. Ich habe nur große Wagenräder. Es ist ein kleiner Ort.«

      »Haben Sie ein Kabriolett, das Sie vermiethen könnten?«

      Der Stellmachermeister hatte auf den ersten Blick erkannt, daß der Tilbury ein Miethwagen war. Er zuckte die Achseln.

      »Sie richten die Wagen, die Sie miethen, gut zu. Hätte ich einen, ich würde ihn Ihnen nicht anvertrauen.«

      »Gut, so kaufe ich Ihnen einen ab.«

      »Ich habe keinen.«

      »Was! Auch keine Halbkutsche? Sie sehen, ich bin leicht zufrieden zu stellen.«

      »In einem kleinen Ort kann man das Alles nicht bekommen. Ich habe allerdings da in der Remise eine alte Kalesche, die einem Herrn in der Stadt gehört. Er hat sie mir zur Aufbewahrung übergeben und gebraucht sie alle Jubeljahr ein Mal. Mir käm's nicht darauf an, sie Ihnen zu geben, aber der Einwohner dürfte nichts davon wissen. Und dann gehören auch zwei Pferde zu einer Kalesche.«

      »So werde ich zwei Postpferde miethen.«

      »Wohin reist der Herr?«

      »Nach Arras.«

      »Und der Herr muß heute schon da sein?«

      »Ja freilich.«

      »Mit Postpferden?«

      »Warum denn nicht?«

      »Ist es dem Herrn egal, wenn er heute Nacht um vier Uhr in Arras ankommt?«

      »Durchaus nicht.«

      »Ja, sehen Sie, mit den Postpferden ist das so 'ne Sache ... Der Herr hat seinen Paß mit?«

      »Ja.«

      »Nun, mit Postpferden wird der Herr nicht vor morgen früh in Arras ankommen. Unser Ort liegt an einem Querweg; da hat man nicht die Ordnung, die sich gehört. Die Pferde sind jetzt alle auf den Feldern. Es ist nämlich die Zeit, wo gepflügt wird und starke Thiere gebraucht werden. Da nimmt man die guten Pferde, wo man sie kriegt, auch die von der Post. Der Herr wird auf jeder Station drei bis vier Stunden warten müssen. Noch dazu geht's im Schritt. Es sind viel Anhöhen in unserer Gegend.«

      »Gut, dann werde ich hin reiten. Spannen Sie den Wagen aus. Ein Sattel wird doch hoffentlich hier zu haben sein.«

      »Gewiß. Aber ist das auch ein reitbares Pferd?«

      »Richtig! Sie erinnern mich daran. Es ist nur ein Wagenpferd.«

      »Ja dann ...«

      »Aber ich werde doch im Dorfe ein Reitpferd finden, das ich miethen kann?«

      »Das die ganze Strecke bis Arras hintereinander weg galoppieren soll?«

      »Ja wohl.«

      »Solch ein Pferd ist hier zu Lande nicht zu haben. Sie müßten's auch kaufen, denn Sie sind hier Keinem bekannt. Aber ob Sie's nun kaufen oder miethen ob Sie fünfhundert Franken bieten, oder tausend, Sie würden keins auftreiben können!«

      »Was fange ich blos an?«

      »Je nun, so wahr ich ein ehrlicher Mann bin, das Beste ist, ich setze das Rad wieder in Stand, und Sie schieben Ihre Abfahrt bis morgen auf.«

      »Morgen ist es zu spät.«

      »Ja dann!«

      »Wann kommt die Postkutsche nach Arras hier durch!«

      »Diese Nacht. Die hin, und die zurückfährt, fahren des Nachts.«

      »Also Sie brauchen wirklich einen Tag dazu, ein Rad auszubessern?«

      »Einen Tag mindestens.«

      »Mit zwei Gesellen?«

      »Auch wenn ich zehn hätte.«

      »Wie wäre es, wenn man die Speichen mit Stricken bände?«

      »Die Speichen, ja! Bei der Nabe geht das nicht. Uebrigens ist die Felge auch in schlechter Verfassung.«

      »Giebt es in der Stadt einen Wagenvermiether?«

      »Nein.«

      »Einen andern Stellmacher?«

      »Nein!« antworteten der Stallknecht und der Stellmacher einstimmig und schüttelten den Kopf.

      Madeleine empfand eine grenzenlose Freude. Die Vorsehung mischte sich offenbar ins Spiel. Sie hatte es so gefügt, daß der Tilbury beschädigt wurde und die Reise nicht weiter fortgesetzt werden konnte. Er hatte den ersten Wink, den sie ihm gab, unbeachtet gelassen; hatte Alles, was in seinen Kräften stand, gethan um weiter fahren zu können, und redlich und gewissenhaft alle möglichen Mittel probiert; hatte weder die Winterkälte, noch Strapazen, noch Geldausgaben gescheut; kurz, sein Gewissen durfte ihm keine Vorwürfe machen. Wenn er nicht weiter fuhr, so ging ihn das nichts mehr an. Es war nicht seine Schuld. Nicht er, die Vorsehung hatte es so gewollt.

      Er athmete auf, zum ersten Mal seit Javerts Besuch, frei und aus voller Brust. Ihm war, als löse sich die eiserne Hand, die ihm seit zwanzig Stunden das Herz zusammendrückte, und lasse ihn los.

      Gott war jetzt für ihn und ließ es ihn wissen.

      Jetzt, wo er alles Mögliche gethan, durfte er doch wohl ruhig nach Hause zurückkehren.

      Wenn sein Gespräch mit dem Stellmacher in einem


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