Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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stand vor den Augen seines Geistes in lichtvollen Schriftzeichen das Gebot geschrieben: »Geh! Nenne, denunzire dich!«

      Desgleichen erkannte er so deutlich, als hätte sie eine sinnlich wahrnehmbare Gestalt angenommen, ihrem Wesen nach, die beiden Grundsätze, die bisher die Richtschnur seines Lebens gewesen waren: Die Verheimlichung seines Namens und die Heiligung seiner Seele. Zum ersten Mal sah er ein, daß sie durchaus verschieden waren. Er begriff, daß eins dieser Prinzipien ein nothwendig gutes sei, während das andre zum Bösen führen konnte, daß das eine soviel wie Selbstaufopferung, das andre Selbstsucht bedeute; daß das eine dem Licht, das andre der Finsterniß entstammen.

      Sie bekämpften sich und er sah diesen Kampf. In dem Maße, wie er über sie nachdachte, waren sie in den Augen seines Geistes größer geworden, zu Kolossen angewachsen, von denen der eine ihm als ein Gott, der andre als ein Titan erschien.

      Er war entsetzt, aber es dünkte ihn, daß der edle Grundsatz den Sieg davontrage.

      Er fühlte, daß er an dem zweiten Wendepunkt seines innern Lebens und seines äußern Schicksals angelangt sei. Hatte die Begegnung mit dem Bischof den ersten Abschnitt seines neuen Lebens bestimmt, so sollte jetzt die Befreiung Champmathieus' den Anfang der zweiten Periode kennzeichnen. Nach der großen Krisis die große Prüfung.

      Indessen trat das Fieber, das einen Augenblick nachgelassen hatte, wieder auf. Tausend Gedanken durchkreuzten sein Hirn, bestärkten ihn aber nur in seinem Entschlusse.

      Eine Zeit lang hatte er den Einwand erhoben, er nahm es vielleicht zu genau, vielleicht verdiene Champmathieu keine Theilnahme, der Mensch sei ja doch nur ein Spitzbube.

      Diesen Einwurf widerlegte er sich aber: – Hatte der Mann wirklich ein paar Aepfel gestohlen, so gehörte ihm ein Monat Gefängnis, was sehr verschieden ist von lebenslänglicher Zuchthausstrafe. Und hat er denn überhaupt gestohlen? Liegen Beweise vor? Der Name Jean Valjean klagt ihn an und erläßt alle Beweise. Verfahren die Staatsanwälte nicht immer so? Sie halten Einen für einen Dieb, weil er Zuchthaussträfling gewesen ist.

      Einmal ließ er sich den Gedanken beikommen, wenn er sich den Gerichten stelle, würde man ihm vielleicht die heldenmüthige Selbstüberwindung, und seinen rechtschaffenen Lebenswandel während der letzten sieben Jahre, seine Verdienste um die Stadt anrechnen und Gnade für Recht ergehen lassen.

      Aber diese Hoffnung verflüchtigte sich rasch, und er erinnerte sich mit bittrem Lächeln, daß der Raub der vierzig Sous ihn zu einem rückfälligen Verbrecher stemple. Dieser Fall würde sicherlich anhängig gemacht werden und dann verfiel er dem klaren Wortlaut des Gesetzes gemäß, einer Verurtheilung zu lebenslänglichem Zuchthaus.

      Er entsagte also jedweder trügerischen Hoffnung, lenkte seinen Sinn mehr und mehr von allem Irdischen ab und suchte anderswo Trost und Kraft. Er sagte sich, er müsse seine Schuldigkeit thun, vielleicht würde er nach Erfüllung seiner Pflicht nicht unglücklicher sein, als wenn er sie umginge; wenn er die Dinge ihren Gang gehen ließe, wenn er in Moatreuil-sur-Mer bleibe, würde sein guter Ruf, seine guten Werke, die Hochachtung und Verehrung, die man ihm zollte, sein Reichthum, die Beliebtheit, der er sich erfreute, seine Tugendhaftigkeit durch ein Verbrechen entwertet sein. Vollbringe er aber das Opfer, so würde ihm das Leben im Zuchthaus mit dem Halseisen, der Kette, der grünen Mütze, der harten Arbeit, der Schande, und Verachtung durch den Gedanken an den Himmel versüßt werden.

      Die Erwägung so vieler schrecklicher Zweifel schwächte nicht seinen Muth, ermüdete aber sein Gehirn. Wider Willen verfiel er auf andre, unwichtigere Gedanken.

      Das Blut hämmerte heftig in seinen Schläfen und er ging noch immer auf und ab. Jetzt schlug die Kirchthurmuhr, dann die Uhr des Rathhauses Mitternacht. Er zählte beide Male die Schläge und verglich den Ton der Glocken. Ja, es fiel ihm sogar der höchst gleichgültige Umstand ein, daß er vor einigen Tagen bei einem Eisenhändler eine alte Glocke mit der Aufschrift: »Antoine Albin, Romainville« gesehen hatte.

      Ihn fror. Er zündete Feuer im Kamm an. Das Fenster zuzumachen, daran dachte er nicht.

      Währenddem war er wieder in dumpfe Gedankenlosigkeit versunken, und es kostete ihm ziemlich viel Mühe, um sich auf das zu besinnen, was seinen Geist vor Mitternacht beschäftigt hatte.

      »Ach so!« sagte er bei sich, »ich hatte beschlossen mich den Gerichten anzugeben.«

      Da fiel ihm plötzlich Fantine ein.

      »Ja, was soll denn aber aus der werden?«

      Dieser Gedanke führte eine neue Krisis herbei.

      Er wirkte, wie ein unerwarteter Lichtstrahl, der urplötzlich alle Gegenstände ganz anders erscheinen läßt.

      »Was soll das heißen? Ich habe ja bis jetzt immer nur an mich gedacht, nur auf mein Belieben Rücksicht genommen. Es beliebt mir zu schweigen oder mich zu denunzieren, meine Person in Sicherheit zu bringen oder meine Seele zu retten, ein verächtlicher und geachteter Beamter oder ein verachteter und Ehrfurcht verdienender Sträfling zu sein, aber ob das Eine, oder das Andere, immer beziehe ich Alles nur auf mich, auf mich allein! Du mein Gott! das ist Alles Selbstsucht. Verschiedene Formen des Egoismus, aber immer Egoismus. Wie wenn ich auch einmal ein wenig an Andre dächte? Das ist doch die allererste Pflicht. Ich will doch mal die Sache auch unter diesem Gesichtspunkt betrachten. Wenn ich nicht mehr da bin, wie wird's dann hier aussehen? – Wenn ich mich dem Gericht stelle, so stecken sie mich wieder in's Zuchthaus. Gut. Aber es ist doch noch der Bezirk, die Stadt, die Fabriken, eine neu geschaffene Industrie, die Arbeiter mit ihren Familien, die armen Leute da! Das Alles habe ich in's Leben gerufen und erhalte ich im Gange, überall, wo ein Kamin raucht, habe ich das Feuer angezündet und Fleisch in den Kochtopf gethan; ich habe den Wohlstand, den Verkehr, den Kredit ermöglicht; vor mir war das Alles nicht; ich habe das ganze Land gehoben, belebt, beseelt, befruchtet, angeregt, bereichert; gehe ich, so fehlt dem Ganzen die Seele. Und die Arme, die so viel erduldet, die sich trotz der Schande so tapfer gezeigt hat, deren Unglück ich ohne meine Schuld veranlaßt habe! Und das Kind, das ich holen und der Mutter bringen wollte! Schulde ich ihr nicht auch etwas für all das Unheil, das ich über sie gebracht habe. Verschwinde ich – was geschieht dann? Die Mutter stirbt, und das Kind ist dem Schlimmsten ausgesetzt. Alles dies passirt, wenn ich mich anzeige. Wenn ich mich nicht anzeige – nun?

      Nachdem er diese Frage aufgeworfen, hielt er inne; zauderte eine Weile und zitterte; aber dies währte nicht lange und er beantwortete die Frage mit großer Ruhe:

      »Nun dann kommt Champmathieu allerdings in Zuchthaus, aber warum zum Teufel hat er denn gestohlen? Ich mag reden, so viel ich will: Gestohlen hat er. Ich bleibe hier und setze mein Werk fort. Im Laufe von zehn Jahren verdiene ich zehn Millionen; die verschenke, die verwende ich zum Nutzen des Gemeinwohls. Ich behalte nichts für mich; mein Vortheil bleibt bei Allem, was ich thue, aus dem Spiel. Der allgemeine Wohlstand nimmt beständig zu; neue Erwerbszweige entstehen und beleben sich gegenseitig; die Fabriken vermehren sich; die Familien, Hunderte, Tausende von Familien werden glücklich; das Land bevölkert sich; es entstehen Dörfer, wo früher nur vereinzelte Gehöfte standen; Gehöfte, wo jetzt Einöden sind; das Elend verschwindet und mit dem Elend die Lüderlichkeit, die Prostitution, Diebstahl, Mord, alle Laster, alle Verbrechen. Bleibe ich also, so kann die arme Mutter ihr Kind groß ziehen und die Bevölkerung eines ganzen Landes wird wohlhabend und brav. War ich denn ganz des Teufels, ganz verdreht, daß ich mich denunziren wollte? Ich muß mir wirklich die Sachen sorgfältiger überlegen und nichts überstürzen. Wie? Weil es mir belieben würde mit einer melodramatischen Seelengröße zu prahlen, weil ich nur an mich denken würde, wer weiß, was für einen Kerl, einen Spitzbuben, jedenfalls aber einen Thunichtgut vor einer zu harten, aber im Grunde genommen verdienten Strafe retten möchte, sollte ich ein ganzes Land zu Grunde gehen lassen, müßte ein armes Weib im Spital, ein armes kleines Mädchen auf der Straße umkommen, als wenn es Hunde wären! Das wäre ja ganz was Abscheuliches! Bevor die Mutter ihre Tochter wieder gesehen, die Tochter ihre Mutter kennen gelernt hat! Und alles dies einem lumpigen alten Apfeldieb zu Liebe, der, wenn nicht deswegen, doch gewiß für irgend etwas Anderes Zuchthaus verdient hat. Nette Gewissenhaftigkeit, wenn man einen Schuldigen rettet und unzählige Unschuldige hinopfert! Wie kann ein alter Strolch, der nur noch wenige Jahre zu leben hat und im Zuchthaus sich nicht viel unglücklicher


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