Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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entwirft, eine Schildrung, die sowohl der mühseligen Sklaverei als auch der Freiheit ihres Lebens beredten Ausdruck leiht: »Ihr Kloster soll nur das Haus der Kranken sein, ihre Zelle nur ein gemiethetes Zimmer, ihre Kapelle nur die Kirche ihres Sprengels, ihre Klausur nur die Straßen der Stadt oder die Säle der Krankenhäuser, ihr Sprechgitter nur die Furcht Gottes, ihr Schleier nur die Sittsamkeit. Dieses Ideal war in Schwester Simplicia zur Wirklichkeit geworden. Wie alt sie war, wußte Niemand zu sagen; sie war nie jung gewesen, und es sah nicht aus, als ob sie je alt sein werde. Sie war ein sanftes Wesen, Weib wagen wir nicht zu nennen – von strengster Sittenreinheit, von feiner Bildung, und größter Wahrhaftigkeit. Trotz ihrer Sanftmuth konnte sie fest sein, wie der Granit. Ihre Rede kam dem Stillschweigen sehr nahe, denn sie sprach nur das Allernothwendigste, und ihre Worte klangen so weich und lieblich, daß sie nicht nur im Beichtstuhl, sondern auch in einem Salon das Wohlgefallen ihrer Zuhörer hätte erregen können. Fein gewöhnt, wie sie war, gefiel ihr die grobe Wolle, in die sie gekleidet war, weil dieser rauhe Stoff sie beständig an den Himmel und an Gott erinnerte. Ein Zug verdient noch besonders hervorgehoben zu werden. Sie hatte nie gelogen, niemals aus irgend einem Grunde, niemals auch nur leichthin irgend etwas gesagt, das nicht die Wahrheit, die lauterste Wahrheit, gewesen wäre: Hierin bestand Schwester Simplicias wesentlichstes Merkmal, das Hauptkennzeichen ihrer Tugend. Wegen dieser unerschütterlichen Wahrheitsliebe war sie sogar berühmt in ihrer Kongregation, und der Abt Sicard erwähnt sie auch aus diesem Grunde in einem Brief an den Taubstummen Massieu. So aufrichtig und lauter auch unsre Gesinnung sein mag, immer haftet ihr der Flecken der unschuldigen, kleinen Lüge an. Bei ihr nicht. Giebt es denn unbedeutende, unschuldige Lügen? Die Lüge ist etwas absolut Böses. Man kann nicht »ein Bischen« lügen; eine Lüge ist so verlogen, wie jede andre; die Lüge ist das Wesen des Dämons, und Satan hat zwei Namen, Satan und Lüge. So dachte sie. Und wie sie dachte, so handelte sie auch. In Folge dessen strahlte auch in ihren Zügen, ja auf ihren Lippen und in ihren Augen eine makellose Reinheit und Klarheit. Ihr Gewissen war von keinem Staub, keinem Schmutz befleckt. Uebrigens war auch der Name, den sie bei ihrem Eintritt in den Orden angenommen, ein mit Absicht gewählter. Denn bekanntlich ist die heilige Simplicia aus Sicilien jene Heilige, die sich lieber die Brüste ausreißen ließ, als daß sie sich zu der Lüge herabließ, sie sei in Segesta – statt in Syrakus – geboren, einer Lüge, die sie gerettet hätte. Schwester Simplicia hätte sich also keine für sie passendere Schutzheilige wählen können.

      Schwester Simplicia hatte, seitdem sie Mitglied ihres Ordens war, zwei Fehler, die sie allmählich abgelegt hatte; sie naschte und empfing gern Briefe. Jetzt las sie nur ein lateinisches Gebet mit großen Lettern. Verstand sie nicht Latein, so verstand sie doch das Buch.

      Das fromme Mädchen hatte Fantine lieb gewonnen, wahrscheinlich weil sie ihr verborgne Tugendhaftigkeit anmerkte, und hatte ihre Pflege speziell übernommen.

      Diese Schwester Simplicia also nahm Madeleine jetzt bei Seite und empfahl ihr Fantine mit einem eigenthümlichen Nachdruck, an den sie sich später erinnerte.

      Dann trat er an Fantinens Bett.

      Diese wartete jeden Tag auf Madeleine's Erscheinen, wie auf einen wärmenden Freudenstrahl. »Ich lebe nur, wenn der Herr Bürgermeister da ist,« pflegte sie zu den Schwestern zu sagen.«

      An diesem Morgen fieberte sie gerade sehr stark. Als sie Madeleine erblickte, fragte sie hastig: »Wo bleibt Cosette?«

      Er antwortete lächelnd.

      »Sie kommt bald.«

      Madeleine benahm sich gegen Fantine dieses Mal so wie sonst. Nur daß er zu ihrer größten Freude eine volle Stunde blieb, statt einer halben, wie es sonst seine Gewohnheit war. Auch bat er dringend das ganze Personal, es der Patientin an Nichts fehlen zu lassen, sie recht gut zu pflegen und dergl. mehr. Es fiel ferner auf, daß sein Gesicht sich einmal verdüsterte. Aber dies erklärte sich daraus, daß der Arzt ihm leise ins Ohr geflüstert hatte: »Es geht rasch mit ihr zu Ende.«

      Dann kehrte er nach dem Stadthaus zurück, und der Büreaudiener sah ihn, wie er eine Postkarte von Frankreich, die in seinem Arbeitskabinett an der Wand hing, aufmerksam studirte. Dann schrieb er mit Bleistift einige Ziffern auf einen Zettel.

      II. Ein Schlaukopf

      Aus dem Stadthaus begab er sich dann bis an das Ende der Stadt zu einem Flamänder, Meister Scaufflaire, der Pferde und Fuhrwerke vermiethete.

      Der kürzeste Weg zu diesem Scaufflaire führte durch eine wenig begangne Straße, in der sich das Pfarrerhaus befand. Der Pfarrer galt für einen guten, sehr achtbaren und sehr klugen Mann, den seine Pfarrkinder gern um Rath fragten. In dem Augenblick nun, wo Madeleine an diesem Hause vorbeikam, war nur ein einziger Mensch in der Straße, und dieser war Zeuge folgenden Vorgangs: Der Bürgermeister blieb, nachdem er schon an dem Pfarrhaus vorbeigegangen war, nachdenklich stehen, kehrte um und hob den eisernen Thürklopfer empor. Da hielt er wieder inne, als besinne er sich, legte endlich den Klopfer sacht in seine gewöhnliche Lage zurück und eilte dann schneller, als er gekommen war, von dannen.

      Scaufflaire besserte gerade ein Geschirr aus, als Madeleine seine Werkstatt betrat.

      »Haben Sie ein gutes Pferd, Meister Scaufflaire?«

      »Herr Bürgermeister, sagte der Flamänder, alle meine Pferde sind gut. Was verstehen Sie unter einem guten Pferde?«

      »Ein Pferd, das zwanzig Meilen an einem Tage zurücklegen kann.«

      »Alle Wetter! zwanzig Meilen?«

      »Ja.«

      »Mit einem Kabriolett?«

      »Ja.«

      »Und wie lange darf es sich nachher ausruhen?

      »Nöthigen Falls muß es schon den nächsten Tag wieder reisefähig sein.«

      »Und wieder dieselbe Strecke zurücklegen?«

      »Ja.«

      »Teufel auch! Also zwanzig Meilen?«

      Madeleine zog den Zettel aus der Tasche, wo er nach der Betrachtung der Wegkarte die Ziffern 5, 6, 8½ aufgeschrieben hatte.

      »Hier sehen Sie,« sagte er. »Summa 19½ Meile, oder sagen wir lieber gleich zwanzig.«

      »Herr Bürgermeister, begann jetzt der Flamänder, ich habe ein Pferd, das für Sie passen wird. Mein kleiner Schimmel, den Sie wohl schon bisweilen gesehen haben. Ein Thierchen aus der Gegend von Boulogne. Ueber alle Maßen feurig. Es sollte erst zum Reiten dressirt werden. Das paßte ihm aber nicht. Es schlug aus und warf Jeden ab. Nun glaubte man, das Thier sei zu nichts zu gebrauchen. Da hab' ich es gekauft und vor ein Kabriolett gespannt. Das war nach seinem Sinn. Es ist sanft wie ein kleines Mädchen und rennen thut's wie der Wind. Allerdings auf den Rücken darf man ihm nicht steigen. Es hat sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß es sich nur als Zugpferd gebrauchen lassen will.

      »Und wird es die Fahrt leisten?«

      »Zwanzig Meilen in scharfem Trabe und in noch nicht acht Stunden. Aber nur unter gewissen Bedingungen.

      »Welchen?«

      »Erstens müssen Sie es, wenn es die Hälfte des Weges hinter sich hat, eine Stunde verschnaufen lassen. Während der Zeit muß es fressen und es muß jemand dabei sein und aufpassen, daß der Hausknecht der Herberge ihm nicht den Hafer stiehlt. Ich habe bemerkt, daß mehr Hafer in einer Herberge von dem Hausknecht versoffen, als von den Pferden gefressen wird.

      »Gut, es soll darauf aufgepaßt werden.«

      »Zweitens ... Werden der Herr Bürgermeister selber die Fahrt machen?«

      »Ja.«

      »Können der Herr Bürgermeister lenken?

      »Ja.«

      »Gut. Dann müssen der Herr Bürgermeister allein und ohne Gepäck fahren.«

      »Zugestanden.«

      »Aber da Herr Bürgermeister Niemand mitnehmen, werden Sie Sich selbst bemühen und aufpassen müssen, daß mein Pferd


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