Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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mir einen Eingriff in die Rechte der Polizei gestattet hätte?«

      »Als ehemaligen Galeerensklaven.«

      Der Bürgermeister wurde kreideweiß.

      Javert, der die Augen nicht erhoben hatte, fuhr fort.

      »Ich hatte es mir eingebildet. Die Sache ging mir schon lange Zeit im Kopf herum. Eine äußerliche Aehnlichkeit, der Umstand, daß Sie in Faverolles Erkundigungen haben anstellen lassen. Ihre große Körperkraft, Ihre Treffsicherheit im Schießen, Ihre Gewohnheit, das eine Bein etwas nachschleppen zu lassen, und wer weiß was noch! Lauter Unsinn! Aber ich hielt Sie nun einmal für einen gewissen Jean Valjean.«

      »Für einen gewissen ... Wie nannten Sie ihn?«

      »Jean Valjean. Ein Galeerensklave, den ich vor zwanzig Jahren in Toulon gesehen habe. Ich war damals Aufsehergehülfe. Nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus hat dieser Jean Valjean, heißt es, einen Diebstahl im Hause eines Bischofs begangen, und nachher noch auf einer öffentlichen Landstraße mit bewaffneter Hand einen Savoyardenjungen beraubt. Er war seit acht Jahren verschwunden und wurde vergeblich gesucht. Ich hatte mir eingeredet ... Kurz, ich habe mich endlich von der Wuth hinreißen lassen, Sie zu denunzieren.«

      Madeleine, der seit einer Weile den Aktenstoß wieder vorgenommen hatte, fragte mit vollständig gleichgültigem Tone:

      »Was hat man Ihnen geantwortet?«

      »Ich wäre verrückt.«

      »Nun, und ...«

      »Die Herren hatten Recht.«

      »Ein Glück, daß Sie das zugeben.«

      »Ich muß es wohl, denn der richtige Jean Valjean ist wieder aufgefunden.«

      Das Blatt, das Madeleine gerade in der Hand hielt, entfiel ihm, er hob den Kopf, sah Javert fest an und sagte mit einer räthselhaften Betonung: »Ei was?«

      »Die Sache verhält sich folgendermaßen, Herr Bürgermeister. In der Gegend von Ailly-le-Haut-Clocher lebte ein Kerl, den sie Champmathieu nannten. Ein bitterlich armer Wicht, den man nicht beachtete. Dergleichen Leute leben, man weiß nicht, wie. Kürzlich, im vergangenen Herbst, ist dieser Vater Champmathieu arretirt worden. Er hatte Aepfel gestohlen bei ... Ich weiß nicht mehr wem. Es kommt auch nicht darauf an. Kurz und gut: Diebstahl, Ersteigung einer Mauer, und Beschädigung eines Baumes. Mein Champmathieu wird arretirt, und man findet ihn noch im Besitz eines Astes von dem Apfelbaum. Der Kerl wird hinter Schloß und Riegel gebracht. Bis dahin war dies nur eine Sache, die das Polizeigericht anging. Aber nun ereignet sich ein merkwürdiger Zufall. Das Gefängniß war baufällig, und der Untersuchungsrichter läßt Champmathieu nach Arras bringen. In dem Gefängniß zu Arras sitzt aber ein ehemaliger Galeerensklave Namens Brevet, der wegen seiner guter Aufführung zum Zimmeraufseher ernannt worden ist, und dieser Brevet wird den Champmathieu kaum ansichtig, so schreit er: »Herrjeh, den kenne ich! Sieh mich mal an, guter Freund! Du bist Jean Valjean.« – »Jean Valjean? Was für ein Jean Valjean?« fragt Champmathieu und thut ganz erstaunt. »Spiele doch nicht den wittschen Kaffer«, sagt Brevet. Du bist Jean Valjean. Du hast im Schurf' zu Toulon gesessen. Vor zwanzig Jahren. Mit mir zusammen.« Freund Champmathieu leugnet. Selbstverständlich! Die Herren aber gehen der Sache auf den Grund und finden Folgendes: Champmathieu war vor dreißig Jahren Baumputzer gewesen und hatte sich an verschiedenen Orten aufgehalten, besonders in Faverolles. Da aber verlor sich seine Spur, und man findet ihn erst lange Zeit nachher in der Auvergne wieder, dann in Paris, wo er – so behauptet er – Stellmacher war und eine Tochter hatte, die Waschfrau war; aber dies ist nicht bewiesen. Endlich in hiesiger Gegend. Was war nun aber Jean Valjean, ehe er ins Zuchthaus kam? Baumputzer. Wo? In Faverolles. Noch eins. Besagter Jean Valjean hieß mit seinem Taufnamen Jean, und seine Mutter führte ihren Familiennamen Mathieu. Was ist also natürlicher, als die Annahme, daß er sich nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus nach seiner Mutter – Jean Mathieu – genannt hat, um seine Spur zu verwischen. Er geht nach der Auvergne. Dort zu Lande wird Jean wie Chan ausgesprochen, und die Leute nennen ihn Chan Mathieu. Unser guter Freund läßt sich die Sache gefallen und wird nun Champmathieu. Sie folgen meiner Rede, Herr Bürgermeister, nicht wahr? Es werden Erhebungen in Faverolles angestellt. Jean Valjeans Familie ist dort nicht mehr zu ermitteln und kein Mensch weiß, wo sie geblieben ist. Bei den niederen Leuten kommt es ja oft vor, daß ganze Familien verschwinden. Sind solche Leute nicht wie der Koth, so sind sie wie Staub. Der wird weggeweht, man weiß nicht wohin. Und da der Anfang dieser Geschichte dreißig Jahre zurückgeht, so ist auch in Faverolles kein Mensch mehr zu finden, der Jean Valjean gekannt hätte. Nun werden Nachforschungen in Toulon angestellt. Abgesehen von Brevet sind nur noch zwei Sträflinge da, die Jean Valjean gesehen haben, Cochepaille und Chenildieu, zu lebenslänglichem Zuchthaus Verurtheilte. Die läßt man also von Toulon kommen und stellt sie dem angeblichen Champmathieu gegenüber. Sie sind keinen Augenblick im Zweifel. Für sie wie für Brevet ist der Mann Jean Valjean. Dasselbe Alter – vierundfünfzig Jahre –dieselbe Größe, dieselben Züge, kurz derselbe Mann. Gerade zu jener Zeit sandte ich meine Denunziation bei der pariser Präfektur ein. Ich bekomme zur Antwort, ich wäre nicht gescheidt, Jean Valjean wäre in Arras und in den Händen der Gerechtigkeit. Sie begreifen, daß ich verwundert war. Glaubte ich doch, Jean Valjean hier zu haben. Ich schreibe an den Herrn Untersuchungsrichter. Er läßt mich kommen, der Champmathieu wird vorgeführt ...«

      »Und?« fiel ihm Madeleine ins Wort.

      Javert fuhr mit derselben festen und schwermütigen Miene fort:

      »Herr Bürgermeister, die Wahrheit ist die Wahrheit. Ich habe ihn ebenfalls erkannt.«

      »Sind Sie dessen sicher?« fragte Madeleine sehr leise.

      Javert lachte wie Einer, der zu seinem Leidwesen von einer unumstößlichen Thatsache nur zu fest überzeugt ist, und antwortete:

      »O vollkommen sicher!«

      Er versank in tiefes Nachdenken und spielte dabei mechanisch mit dem Sägemehl in dem Streufaß, das auf dem Tische stand; dann fuhr er fort:

      »Und jetzt, wo ich den wahren Jean Vahean gesehen habe, begreife ich nicht, wie ich jemals mich so gröblich irren konnte. Ich bitte Sie deswegen um Verzeihung, Herr Bürgermeister.«

      So demüthig sich diese Bitte von dem sonst so hochmütigen Manne anhörte, so einfach und würdevoll war dabei doch seine Haltung. Madeleine antwortete aber nur mit der hastigen Frage:

      »Und was sagt der Mann?«

      »Ja, der Fall liegt sehr schlimm. Ist er Jean Valjean, ist ein Rückfall vorhanden. Wenn ein kleiner Junge über eine Gartenmauer klettert, Aeste zerbricht, Aepfel stibitzt, so ist das ein dummer Streich; thut's ein Erwachsener, so nennt man's ein Vergehen; ist der Erwachsene ein ehemaliger Zuchthäusler, ein Verbrechen, ein »Diebstahl mit Einbruch.« Der Fall gehört dann nicht mehr vor das Zuchtpolizei-, sondern vor das Schwurgericht. Mit ein paar Tagen Gefängniß kommt solch ein Kerl nicht davon, er wandert auf Lebenszeit ins Zuchthaus. Und außerdem wird die Beraubung des kleinen Savoyarden doch hoffentlich auch zur Verhandlung kommen. Da wäre es nicht zu verwundern, wenn der Kerl sich gehörig wehren und ein großes Halloh machen würde, nicht wahr? Aber so dumm ist Freund Jean Valjean nicht. Der leugnet nicht, der streitet nichts ab. Er thut, als begreift er gar nicht, worum es sich handelt, und sagt: »Ich bin Champmathieu, weiter kann ich nichts sagen.« Er setzt eine erstaunte Miene auf und stellt sich dumm, wie ein Stück Vieh. Das ist viel gescheidter. Aber das macht nichts, man hat Beweise in Händen. Er ist von vier Zeugen wiedererkannt worden, der alte Schuft, und ist seiner Verurtheilung sicher. Die Sache wird vor dem Schwurgericht zu Arras verhandelt werden, und ich bin als Zeuge vorgeladen.«

      Madeleine hatte sich mittlerweile wieder nach seinem Schreibtisch umgedreht, seinen Aktenstoß vorgenommen, blätterte darin, las und schrieb mit großer Emsigkeit. Jetzt wandte er sich wieder nach Javert um und sagte:

      »Genug, Javert. Im Grunde genommen interessirt mich die ganze Geschichte herzlich wenig. Wir verlieren unsre Zeit und haben dringliche Sachen zu besorgen. Begeben Sie Sich jetzt auf der Stelle zu Frau Buseaupied, der Gemüsehändlerin an der Ecke der Rue Saint-Saulve. Sagen Sie ihr, sie möchte ihre Klage gegen den Pierre Chesnelong einreichen. Der rohe Mensch hat neulich


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