Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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Hier gab er sich dem Glücksgefühl hin, daß seine schreckliche Vergangenheit durch eine friedvolle, sichre Gegenwart ausgelöscht sei, und der Hoffnung, er würde jetzt verborgen bleiben und einen heiligen Lebenswandel führen können, seinen irdischen Verfolgern entfliehen und zu Gott zurückkehren.

      Diese beiden Gedanken waren in seinem Geiste so eng mit einander verschlungen, daß sie ein einziges Ganzes bildeten, sie nahmen gebieterisch sein ganzes Sein in Anspruch und bestimmten seine geringfügigsten Handlungen. Meistentheils herrschte Eintracht zwischen diesen zwei Prinzipien; sie bestimmten ihn, sich bescheiden der Welt und ihrem Glanze zu entziehen, machten ihn wohlwollend und schlicht, und flößten ihm beide dieselben Gedanken ein. Bisweilen jedoch kam es vor, daß sie mit einander in Kampf geriethen. Dann trug der Mann, den ganz Montreuil-sur-Mer nebst Umgegend Herrn Madeleine nannte, kein Bedenken, das erste dem zweiten, seine persönliche Sicherheit seiner Tugend, zu opfern. So hatte er, aller Vorsicht und allen Geboten der Klugheit zum Trotze, die Leuchter des Bischofs in seinem Besitz behalten, seinen Wohlthäter betrauert, alle Savoyardenjungen zu sich beschieden und ausgefragt, Erkundigungen über Familien in Faverolles eingezogen, dem alten Fauchelevent trotz Javerts argwöhnischen Bemerkungen das Leben gerettet. Nach dem Vorbilde aller Weisen, Frommen und Gerechten dachte er, daß die Pflichten gegen sich selbst nicht die ersten sind.

      Doch war ihm bisher ein so schwieriger Gewissensfall, wie dieser, noch nicht vorgekommen. Noch nie war der Widerstreit zwischen den beiden Grundsätzen, die den Unglücklichen lenkten, ein so heftiger und gefährlicher gewesen. Dies begriff er zwar unklar, aber nachhaltig, bei den ersten Worten Javerts. Als der Name, den er so tief vergraben hatte, unter so sonderbaren Umständen vor ihm ausgesprochen wurde, erfaßte ihn starres Entsetzen, war er wie betäubt, erbebte er wie die Eiche, wenn ein Gewitter naht, wie ein Soldat vor der Schlacht. Er sah in seinem Geiste düstre Wolken über sich, aus denen bald Blitz und Donner hervorbrechen würden. Während er Javerts Worten lauschte, wandelte ihn der Gedanke an, er müsse hineilen, sich angeben, Champmathieu aus dem Gefängniß befreien und seine Stelle einnehmen. Es war schmerzhaft und peinvoll, wie ein Schnitt in sein eigen Fleisch, aber es ging vorüber, und er dachte: Aber – aber! Er unterdrückte also diese erste edle Regung und schrak zurück vor dem heldenmüthigen Opfer.

      Freilich, nach den frommen Ermahnungen des Bischofs, nach so langer Reue und Selbstverleugnung, bei dem wunderbar tiefen Reuegefühl, das ihn beseelte, hätte er selbst Angesichts einer so gräßlichen Gefahr nicht einen Augenblick schwanken und ruhig dem Abgrund zuschreiten sollen, der zum Himmel führte; aber so schön dies gewesen wäre, so wenig würde dies der Wahrheit entsprechen, die wir doch allein im Auge behalten müssen. Der Trieb der Selbsterhaltung gewann fürs Erste die Oberhand; er sammelte rasch seine Gedanken, drängte seine Empfindungen zurück, nahm sich vor dem gefährlichen Javert zusammen, schob jede Entscheidung mit der Hartnäckigkeit der Angst für eine spätere Zeit auf, betäubte sein Gewissen und schirmte sich wieder mit seiner alten Ruhe, gleich einem Krieger, der den ihm entfallenen Schild aufhebt.

      Den ganzen Tag über verharrte er in diesem Zustande: Innen ein Wirbelsturm, nach Außen eine unbewegliche Maske, – und alle Maßregeln, die er ergriff, waren solche, die ihm die Wege nach den beiden entgegengesetzten Seiten hin offen ließen. In seinem Hirn wogten alle Gedanken wirr durcheinander, er konnte keine klare Vorstellung fassen, und er selber hätte über sich nichts aussagen können, als daß er einen furchtbaren Schlag erhalten. Er begab sich wie gewöhnlich an das Schmerzensbett Fantinens und dehnte seinen Besuch recht lange aus, indem er sich von seiner Herzensgüte dazu getrieben fühlte, alle möglichen Vorkehrungen für den Fall, wo er verreisen würde, zu treffen. Er hatte die Empfindung, daß er vielleicht sich nach Arras verfügen müsse, und ohne sich diese Reise fest vorzunehmen, sagte er sich doch, da er keinen Argwohn zu fürchten habe, sei es ihm unbenommen der Gerichtsverhandlung beizuwohnen und bestellte bei Scaufflaire den Tilbury, um auf alle Fälle vorbereitet zu sein.

      Demgemäß ließ er sich auch sein Abendessen leidlich gut schmecken.

      Nachdem er sich in sein Zimmer zurückgezogen, sammelte er sich.

      Er überdachte seine Lage und fand sie so unerhört fürchterlich, daß er unter einem ihm selber unerklärlichen Impulse plötzlich sich von seinem Stuhl erhob und seine Thür verriegelte. Er fürchtete, es würde noch etwas hereinkommen. Er verbarrikadirte sich gegen mögliches Unheil.

      Gleich darauf blies er das Licht aus. Es war ihm unheimlich. Er fürchtete, es könne ihn Jemand sehen.

      »Was für ein Jemand?«

      Ach! das, was er zur Thür hinausgewiesen hatte, war hereingekommen; was er hätte blenden mögen, sah ihm jetzt ins Auge: Sein Gewissen.

      Sein Gewissen, oder in andern Worten Gott.

      Indessen in den ersten Augenblicken gab er sich einer beruhigenden Täuschung hin; es überkam ihn die Empfindung, daß er allein und in Sicherheit sei. Nun er den Riegel vorgeschoben, hielt er sich gegen einen Ueberfall gesichert; nachdem er das Licht ausgelöscht, dünkte er sich unsichtbar. Da gewann er die Herrschaft über sich wieder, stützte die Ellbogen auf den Tisch, vergrub den Kopf in seine Hände und begann in der Dunkelheit angestrengt nachzudenken.

      »Was geht denn mit mir vor? Träume ich nicht? Was habe ich erfahren? Ist es wirklich wahr, daß ich Javert gesprochen, und daß er mir das Alles erzählt hat? Was mag denn der Champmathieu für ein Mensch sein? Also er ähnelt mir? Wie ist das möglich? Wenn ich denke, wie ruhig ich gestern noch lebte, wie fern mir alle Furcht lag! Was that ich doch gleich gestern zu derselben Zeit? Wie wird sich die Sache weiter entwickeln? Was thun?«

      So tobte der Sturm in seinem Innern. Sein Hirn verlor die Fähigkeit, die Gedanken fest zu halten; sie rollten davon wie Wellen, die der Wind vor sich her jagt, und er drückte, als wolle er ihnen die Flucht unmöglich machen, seine Hände fester gegen seine Stirn.

      Dieser Aufruhr der Gedanken und Empfindungen, die er in die Form einer klaren Erkenntniß, eines festen Entschlusses zwängen wollte, endeten nur in schwerer Seelenpein.

      Der Kopf brannte ihm. Er ging und riß das Fenster weit auf. Dann setzte er sich wieder an den Tisch nieder.

      So verlief die erste Stunde.

      Allmählich jedoch traten einige Gedanken in schärferen Umrissen auf, und er konnte mit Bestimmtheit, zwar nicht die ganze Sachlage, aber doch gewisse Einzelheiten erkennen. Vor allen Dingen sagte er sich jetzt, daß er den Ausgang der Dinge vollständig in seiner Hand habe.

      Das setzte ihn noch mehr in Erstaunen.

      Abgesehen von dem religiösen Endzweck seiner Handlungen war Alles, was er bis zu diesem Tage gethan, nur eine Grube, in die er seinen Namen verscharren wollte. Was er immer am meisten gefürchtet hatte, in schlaflosen Nächten oder wenn er sonst Muße gefunden, nachzudenken, war der Gedanke, daß er irgend einmal diesen Namen wieder vernehmen würde. Dann hatte er gedacht, würde alles mit ihm vorbei sein; an dem Tage, wo der Name wieder auftreten würde, müßte das Glück seines zweiten Lebensabschnittes, ja vielleicht sogar die Reinheit seines neuen Wandels ihm entschwinden. Ihm schauderte dann immer bei dem bloßen Gedanken an eine so fürchterliche Umwälzung. Hätte ihm Jemand gesagt, einst werde der gefürchtete Name an sein Ohr klingen, das entsetzliche Licht, das sein Geheimniß aufhellen konnte, würde unversehens über seinem Haupte erglänzen, und dennoch würde der Name keine Drohung für ihn sein, das Licht würde die Finsternis, in die er sich gehüllt, nur verdichten, das Erdleben werde seinen Bau befestigen, dieses wunderbare Ereigniß werde, wenn er es nur wolle, sein Leben aufhellen und doch zugleich besser verhüllen und als Folge seiner Begegnung mit dem Phantom Jean Valjean werde sich nur noch mehr Ehre, Frieden und Sicherheit für den braven hochgestellten Herrn Madeleine ergeben, – wenn Jemand ihm dies gesagt hätte, so würde er den Kopf geschüttelt und solches Gerede für thöricht erklärt haben. Und nun war alles dies eingetreten, dieser Haufen von Unmöglichkeiten hatte sich zu einer vollendeten Thatsache verdichtet, und Gott hatte erlaubt, daß die Verrücktheiten zu Wirklichkeiten geworden waren.

      Nun faßte er auch allmählich seine Lage klarer auf.

      Ihm war, als erwache er aus einer Art Schlaf, als sehe er erst jetzt, daß er in Gefahr geschwebt hatte in einen Abgrund hinabzugleiten. Er bemerkte jetzt in dem Dunkel,


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