Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


Скачать книгу
Tag. Für die Ruhetage wird gleichfalls bezahlt. Keinen Heller weniger und der Hafer geht auf Rechnung des Herrn Bürgermeisters.«

      Madeleine nahm drei Napoleond'or aus seiner Börse und legte sie auf den Tisch.

      »Für zwei Tage pränumerando.«

      »Viertens würde ein Kabriolett für eine so weite Fahrt zu schwer sein und das Pferd zu sehr strapazieren. Der Herr Bürgermeister müßten also die Güte haben und einen kleinen Tilbury nehmen, den ich Ihnen zur Verfügung stellen kann.«

      »Sehr wohl.«

      »Es ist ein leichter Wagen, er hat aber kein Verdeck.«

      »Ist mir egal.«

      »Haben der Herr Bürgermeister bedacht, daß es Winter ist? ...«

      Madeleine gab keine Antwort. Der Flamänder fuhr fort:

      »Daß es regnen kann?«

      Madeleine hob den Kopf in die Höhe und sagte:

      »Morgen früh um halb fünf müssen Pferd und Wagen vor meinem Hause stehn.«

      »Zu Befehl, Herr Bürgermeister,« antwortete Scaufflaire, kratzte mit dem Daumennagel einen Flecken aus, der den Tisch verunzierte und sagte leichthin, als denke er sich nichts Besondres dabei:

      »Aber da fällt mir mit einem Mal ein, daß der Herr Bürgermeister mir noch nicht gesagt haben, wo Sie hingehen ...«

      Er dachte an nichts so angelegentlich als an diesen Punkt seit dem Anfang des ganzen Gesprächs, aber er wußte nicht, weshalb er sich noch nicht getraut hatte, die Frage zu thun.

      »Hat Ihr Pferd gute Vorderbeine?« fragte Madeleine.

      »Ja wohl. Stützen Sie es gefälligst etwas, wenn es bergab geht. Giebt es viel solche Stellen auf dem Wege, den der Herr Bürgermeister fahren wollen?«

      »Vergessen Sie nicht, sich morgen früh ganz pünktlich bei mir einzustellen,« antwortete Madeleine und ging.

      Der Flamänder war ganz »paff«, wie er selber später erzählte.

      Nach zwei oder drei Minuten ging die Thür auf und der Bürgermeister war wieder da, und wieder mit derselben ruhigen tiefsinnigen Miene.

      »Herr Scaufflaire, fragte er, wie hoch schätzen Sie Ihr Pferd und Ihren Tilbury zusammengenommen?«

      »Wollen der Herr Bürgermeister sie mir abkaufen?«

      »Nein, aber ich will aus Vorsorge Sie für jeden Fall sicher stellen. Sie geben mir das Geld nach meiner Rückkehr wieder. Wieviel also für Pferd und Wagen?«

      »Fünfhundert Franken, Herr Bürgermeister.«

      »Hier.«

      Mit diesen Worten legte Madeleine einen Kassenschein auf den Tisch und ging fort, ohne wieder zurückzukehren.

      Meister Scaufflaire bedauerte in der Folge ganz fürchterlich, daß er nicht tausend Franken gesagt hätte. Uebrigens waren Pferd und Fuhrwerk Summa Summarum höchstens dreihundert Franken wert.

      Der Flamänder rief gleich seine Frau und erzählte ihr die Sache. »Wo zum Teufel mag der Herr Bürgermeister hinfahren wollen?« Die Frage verursachte ihnen viel Kopfzerbrechen. »Nach Paris«, meinte die Frau. »Das glaube ich nicht«, widersprach ihr Mann, nahm den Zettel mit den Ziffern, den Madeleine auf dem Kaminsims hatte liegen lassen und studirte ihn aufmerksam. »Fünf, sechs, acht ein halb? Damit müssen Entfernungen zwischen Poststationen gemeint sein. – Ich hab's!« rief er dann plötzlich. »Nun?« »Von hier bis Hesdin sind fünf, von Hesdin bis Saint-Pol sechs, von Saint-Pol bis Arras acht und eine halbe Meile.«

      Mittlerweile war Madeleine nach Hause zurückgekehrt.

      Er hatte einen großen Umweg gemacht, als wenn der Anblick des Pfarrhauses Anlaß zu einer gefährlichen Versuchung hätte geben können. Zu Hause schloß er sich in seinem Zimmer ein, was nichts Auffälliges hatte, denn er begab sich gern frühzeitig zur Ruhe. Indessen beobachtete die Portierfrau der Fabrik, die zugleich auch den Dienst in Madeleine's Haushalt versah, daß sein Licht um halb neun ausgelöscht wurde, und richtete deshalb an den Kassirer, der gerade nach Hause kam, die Frage:

      »Sollte der Herr Bürgermeister unpäßlich sein? Er sah heute Abend ganz eigentümlich aus.«

      Das Zimmer des Kassirers lag unter den Madeleines. Er beachtete die Worte der Portierfrau nicht weiter, legte sich zu Bett und schlief ein. Gegen Mitternacht aber erwachte er plötzlich in Folge eines Geräusches über seinem Kopfe. Er horchte auf. Es war, als ob Jemand in dem Zimmer über ihm hin und her gehe, und bald erkannte er auch Madeleines Tritt. Das kam ihm sonderbar vor, denn gewöhnlich ließ sich vor der Stunde, wo Madeleine aufzustehen pflegte, kein Geräusch vernehmen. Gleich darauf schien es dem Kassirer, als würde oben ein Schrank auf- und dann wieder zugemacht. Dann wurde ein Möbel von seiner Stelle gerückt, es trat Stille ein, und wiederum wurden Schritte hörbar. Der Kassirer, der jetzt vollständig munter geworden war, richtete sich im Bett auf und sah durch das Fenster an dem gegenüberstehenden Hause das grelle Abbild eines hell erleuchteten Fensters. Nach der Richtung der Lichtstrahlen zu urtheilen konnte es sich nur um das Fenster von Madeleines Zimmer handeln. Der Lichtschein zitterte, als rühre er etwa von einem Kaminfeuer, nicht von einer Lampe, her. Da ferner das Fensterkreuz in dem lichten Abbilde fehlte, so war anzunehmen, daß Madeleines Fenster weit offen stehen mußte. Das war in Anbetracht der Kälte, die in der betreffenden Nacht herrschte, sonderbar genug. Bald aber schlief der Kassirer wieder ein, um zwei oder drei Stunden später wieder zu erwachen. Abermals vernahm er ein Geräusch, wie wenn Jemand auf und abgehe.

      Noch immer zeichnete sich das Fenster an dem Hause gegenüber ab, aber matter und ruhiger wie von dem Wiederschein einer Lampe oder einer Kerze. Auch jetzt noch mußte Madeleines Fenster offen stehn.

      Folgendes aber ging in dem oberen Zimmer vor.

      III. Ein Sturm unter einem Schädel

      Der Leser hat gewiß schon errathen, daß Madeleine kein Andrer ist, als Jean Valjean.

      Wir hatten schon einmal einen Blick in die Tiefen dieser Menschenseele geworfen; jetzt ist der Augenblick gekommen, daß wir abermals hineinschauen. Wir vermögen es nicht ohne Angst und Grauen. Giebt es doch nichts Furchtbareres, als eine Betrachtung dieser Art! Das Auge des Geistes findet nirgend grelleres Licht und schwärzere Finsterniß, als im Menschen; es kann nichts begegnen, das furchtbarer, verworrener, rätselhafter und unendlicher wäre. Es giebt etwas, das großartiger anzuschauen ist, als das Meer: der Himmel; etwas, das großartiger ist, als der Himmel: des Menschen Geist.

      Wer das Innere des Menschenhirns, auch nur eines Menschenhirnes, ja auch nur des unbedeutendsten beschreiben könnte, würde das Höchste und Schwerste damit geleistet haben. Welch ein Chaos von Wahnbildern, Begierden, Bestrebungen, Träumen! Welch ein Schlupfwinkel für Gedanken, die sich ihrer selbst schämen! Welch ein Pandämonium von Sophismen! Welch ein Schlachtfeld der Leidenschaften! Könnte man nur in gewissen Stunden mit den Blicken hineindringen in das Innere eines Menschen, den seine Gedanken peinigen! Man würde dann hinter der äußern Ruhe des fahlen Antlitzes homerische Riesenkämpfe, wilde Schlachten zwischen Drachen und Hydren, wie in Miltons Paradies, sich abspielen, dicht gedrängte Schaaren von Schreckbildern, wie in Dantes göttlicher Komödie, aufsteigen sehen. Wie schauerlich ist jene unendliche Welt von Ideen und Empfindungen, die jeder Mensch in sich trägt, und an der er mit Verzweiflung die Bestrebungen seines Hirns und die Thaten seines Lebens mißt!

      Alighieri sah eines eine Thür, vor der er zurückbebte. Auch wir stehen jetzt vor der Schwelle einer solchen Thür. Wagen wir aber dennoch, sie zu öffnen. Wir haben nur noch wenig zu dem hinzuzufügen, was unseren Lesern über Jean Valjean's Schicksale seit seiner Begegnung mit dem kleinen Gervais schon bekannt ist. Wie schon geschildert, war er von Stunde an ein andrer Mensch. Was der Bischof aus ihm machen wollte, das setzte er in Wirklichkeit um. Sein ganzes Wesen läuterte und verklärte sich.

      Es gelang ihm zu verschwinden, er verkaufte das Silbergeschirr des Bischofs mit Ausnahme der Leuchter,


Скачать книгу