Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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den Abgrund schleuderte. Ein Opfer mußte es bekommen, ob ihn oder seinen Doppelgänger, galt dem Schicksal gleich.

      Er brauchte also bloß die Dinge ihren Gang gehen zu lassen. Die Klarheit in seinem Geiste wurde in Folge dieser Einsicht eine vollständige, und er gestand sich Folgendes: Sein Platz im Zuchthaus sei leer geblieben, und müsse, ob er es wolle oder nicht, wieder besetzt werden, da der an dem kleinen Gervais verübte Raub Sühnung erheische. Nun hatte sich aber ein Ersatzmann für ihn gefunden; einen gewissen Champmathieu habe sein Unstern zu dieser Rolle bestimmt, und er hatte, nun er im Zuchthaus durch diesen Champmathieu, in der guten Gesellschaft durch Herrn Madeleine vertreten war, nichts mehr zu befürchten. Dazu brauchte er bloß über dem Haupt seines Doppelgängers den Stein der Schande besiegeln lassen, der wie der Grabstein, der eine Totengrube verschließt, nur einmal niedergesenkt und dann nie wieder entfernt wird.

      Alles dies war so gewaltsam und absonderlich, daß sich ein im menschlichen Leben seltenes Gefühl in ihm regte, eine Art Konvulsion des Gewissens, die aus Ironie, Freude und Verzweiflung besteht und ein innerliches Gelächter genannt werden könnte.

      Er zündete rasch das Licht wieder an.

      »Wovor fürchte ich mich denn so?« sagte er. »Wozu brauche ich mir Gedanken zu machen? Ich bin gerettet. Die Geschichte ist zu Ende. Nur ein Thor stand noch offen, durch das meine Vergangenheit in mein jetziges Leben hineindringen konnte, und dies ist nun für immer geschlossen. Javert, der mich seit so langer Zeit verfolgt, der mit seinem schrecklichen Instinkt mich erkannt zu haben schien, – was schien?« – der mich erkannt hatte, dessen feine Spürnase ist jetzt von meiner Fährte völlig abgelenkt. Er eilt einem andern Wilde nach, er wird es einfangen, zufrieden sein, mich zufrieden lassen. Er hat jetzt seinen Jean Valjean. Wer weiß, ja es ist wahrscheinlich, daß er von Montreuil-sur-Mer fortgehen wird. Und alles dies ist ohne mein Zuthun geschehen! Ich habe nicht die Hand dabei im Spiele gehabt. Was in aller Welt ist denn Schlimmes dabei? Sähe mich jetzt Einer, er würde wahrhaftig glauben, mir sei ein fürchterliches Unglück zugestoßen: So thöricht geberde ich mich! Wenn die Sache für irgend Jemand schlecht abläuft, so ist das doch nicht meine Schuld! Die Vorsehung hat es gewollt. Habe ich das Recht ihre Anordnungen rückgängig zu machen? Was will ich denn eigentlich? Womit befasse ich mich? Mit etwas, das mich nichts angeht. Wie komme ich dazu, unzufrieden zu sein? Was will ich denn noch? Das Ziel, dem ich seit so vielen Jahren zustrebe, der Traum meiner Nächte, um was ich den Himmel täglich bitte, Sicherheit, das fällt mir jetzt von selber zu. So will es Gott, gegen den ich mich nicht auflehnen kann. Und warum will es Gott so? Damit ich fortfahre, was ich angefangen. damit ich Gutes thue, damit ich dermaleinst ein schönes und ermuthigendes Beispiel sei, damit endlich einmal erkannt werde, daß auch die Buße und die Tugend das Glück erringen können! Wahrhaftig, ich begreife nicht, weswegen ich vorhin mich besonnen und dem guten Pfarrer nicht gebeichtet ihm nicht alles erzählt habe. Er hätte mir ganz gewiß denselben Rath gegeben! Also, es bleibt dabei, ich lasse die Dinge gehen, wie Gott will.«

      So sprach er in seinem innersten Herzen, stand dann auf und ging in seinem Zimmer auf und nieder.

      »Also,« begann er wieder, »daß hab' ich hinter mir. Der Entschluß ist gefaßt.«

      Aber er empfand leine Freude.

      Im Gegentheil.

      Man kann seinen Gedanken ebenso wenig verwehren zu demselben Gegenstande zurückzukehren, wie dem Meer verbieten, daß es gegen seine Ufer brandet. Was für den Seemann sie Fluth ist, das sind für den Schuldbewußten die Gewissensbisse. Gott wühlt, wie den Ocean, so auch die Seele auf.

      Nach Ablauf weniger Sekunden verfiel er wieder in das Gespräch, indem er zugleich redete und zuhörte, was er gern verschwiegen hätte, aussprach. Trieb ihn doch unwiderstehlich jene geheimnißvolle Macht, die ihm gebot zu denken, wie sie einst einem anderen Verdammten befohlen hatte, fortan ruhelos zu wandern.

      Bevor wir weiter gehen und um besser verstanden zu werden, müssen wir eine nothwendige Bemerkung machen.

      Es ist gewiß, daß man mit sich selber spricht. Es giebt kein denkendes Wesen, daß dieses Gefühl nicht gehabt hätte. Man sagt etwas zu sich, man spricht mit sich selber, ohne daß darum das Stillschweigen nach außen hin gebrochen würde. Bei dem heftigsten innerlichen Tumult spricht Alles in uns, nur der Mund nicht. Denn mögen die Thatsachen des Innern auch nicht sichtbar oder greifbar sein, Thatsachen sind sie darum doch.

      Er stellte sich also jetzt die Frage, welche Bedeutung der »gefaßte« Entschluß habe. Er bekannte sich selber, daß, was er sich so eben in seinem Geist zurecht gelegt habe, eine Ruchlosigkeit sei, daß die »Dinge gehen zu lassen, wie sie gingen, dem lieben Gott nicht entgegen zu treten« einfach eine abscheuliche Verirrung wäre. Diesen Irrthum des Geschicks und der Menschen sich vollziehen lassen, ihn durch sein Stillschweigen nähren, kurz nichts thun hieß Alles thun! Das war der höchste Grad der Heuchelei und Nichtswürdigkeit! Das war ein gemeines, feiges, heimtückisches, erbärmliches, grauenvolles Verbrechen!

      Zum ersten Mal seit acht Jahren verspürte jetzt der Unglückliche den bittern Geschmack eines bösen Gedankens, einer schlechten Handlung.

      Er wies ihn mit Widerwillen von sich, und befragte sich weiter: »Was hatte er gemeint mit den Worten: Mein Zweck ist erreicht!« Er erklärte, sein Leben habe in der That einen Zweck. Aber welchen? Seinen Namen zu verhehlen, die Polizei hinters Licht zu führen? Weiter hatte er nichts gewollt? Bezweckte er nicht etwas Höheres, Edleres? Schwebte ihm nicht ein schöneres Ziel vor das einzig wahre? Nicht seinen Leib, sondern seine Seele retten, rechtschaffen und gut werden, ein gerechter sein, das hatte er doch immer gewollt, einzig und allein gewollt, das hatte ihm der Bischof befohlen. Die Thür seiner Vergangenheit zuschließen? Herr, erbarme dich – er schloß sie eben nicht, er that sie wieder auf, wenn er eine schändliche Handlung beging; er wurde wieder ein Dieb, der hassenswerteste aller Diebe; er stahl einem Andern sein Dasein, sein Leben, seinen Frieden, seinen Antheil am Sonnenlicht! Er wurde ein Mörder, denn er tötete moralisch einen Unglücklichen, er fügte ihm einen lebendigen Tod zu, den gratlosen Tod, den man die Zuchthaushaft nennt! Im Gegentheil. Sich dem Arm der Gerechtigkeit überliefern, das Opfer des gräßlichen Irrthums retten, seinen wahren Namen wieder annehmen, aus Pflichtgefühl wieder Jean Valjean werden, das hieß vollends auferstehen und die Hölle, der er entronnen war, zudecken. Was dem Anschein nach sein Verderben war, bedeutete in Wirklichkeit seine Rettung. So mußte er handeln! That er das nicht, so hatte er gar nichts gethan. Dann war sein ganzes Leben unnütz, seine Reue verloren, und er konnte dann nur noch sagen: Wozu alles höhere Streben? Er fühlte, daß der Geist des Bischofs auf ihn niederblicke, daß fortan der Bürgermeister Madelaine mit allen seinen Tugenden ihm ein Greuel, und der Zuchthäusler Jean Valjean dagegen achtungswürdig und rein sein würde, daß die Menschen seine Maske sähen, der Bischof sein wahres Gesicht; daß die Menschen auf sein Leben, der Bischof in sein Inneres schaue. Es galt also nach Arras zu gehen, den falschen Jean Valjean zu befreien, den Wahren anzuzeigen. Ach! es war das schwerste Opfer, der schmerzlichste Sieg, der letzte Schritt, der zu thun war, aber es maßte sein. Welch ein trauriges Geschick war das seine! Er konnte von Gott nicht erhöht werden, wenn er nicht von Seiten der Menschen die tiefste Erniedrigung erfuhr!

      »Gut sagte er, es sei beschlossen! Ich will meine Schuldigkeit thun, ich will ihn retten!«

      Diese letzten Worte sprach er ganz laut, ohne es zu bemerken.

      Er nahm seine Rechnungsbücher vor, sah sie durch und brachte sie in Ordnung. Dann warf er eine Menge Schuldscheine, die seine Forderungen an kleine Handelsleute belegten, ins Feuer. Hierauf setzte er einen Brief auf, versiegelte ihn und schrieb auf den Umschlag die Adresse: An den Herrn Bankier Laffitte, Rue d'Artois. Paris.

      Endlich entnahm er einem Schreibpult ein Portefeuille mit Kassenscheinen und den Paß, den er in demselben Jahr gebraucht hatte, um zur Wahl zu gehen.

      Wer ihn hierbei beobachtet, wer seine tiefernste Miene gesehen hätte, würde nicht geahnt haben, was in seiner Seele vorging. Nur von Zeit zu Zeit bewegten sich seine Lippen; dann hob er wieder das Haupt empor und richtete seinen Blick auf irgend eine Stelle der Wand, als sei dort etwas, das er ergründen oder befragen wollte.

      Nachdem er den Brief an Laffitte fertig gemacht, steckte er ihn, wie auch das Portefeuille in die Tasche


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