Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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mag denn das für ein Wagen sein?« dachte er bei sich. »Wer kommt denn so früh?«

      In demselben Augenblick wurde leise an seine Thür geklopft.

      Er erbebte am ganzen Körper und fragte mit zorniger Stimme:

      »Wer ist da?«

      »Ich, Herr Bürgermeister.«

      Er erkannte die Stimme der alten Portierfrau.

      »Nun, was giebt's?«

      »Herr Bürgermeister, es ist gleich fünf Uhr.«

      »Was schiert das mich?«

      »Herr Bürgermeister, der Wagen!«

      »Was für ein Wagen?«

      »Der Tilbury.«

      »Was für ein Tilbury?«

      »Haben der Herr Bürgermeister nicht einen Tilbury bestellt?«

      »Nein!«

      »Der Kutscher sagt, er wäre hierher geschickt?«

      »Was für ein Kutscher?«

      »Der Kutscher von Herrn Scaufflaire.«

      »Herr Scaufflaire?«

      »Bei der Nennung dieses Namens fuhr er zusammen, als wäre ein Blitz vor ihm niedergefahren.

      Hätte die alte Frau ihn in diesem Augenblicke sehen können, sie wäre entsetzt gewesen.

      Es trat eine ziemlich lange Pause ein. Er starrte stumpfsinnig in die Flamme der Kerze und nahm mechanisch von dem Docht das heiße Wachs ab, das er zwischen seinen Fingern rollte. Die Alte wartete unterdessen. Endlich aber fragte sie sehr laut:

      »Herr Bürgermeister, was soll ich antworten?«

      »Daß Alles in Ordnung ist, und daß ich herunterkomme.«

      V. Hemmnisse

      Die Postfuhrwerke, die damals noch seit Napoleons Zeit zwischen Arras und Montreuil-sur-Mer den Briefverkehr besorgten, waren zweirädrige Kabriolette, die inwendig mit falbem Leder ausgeschlagen waren, auf Schraubenfedern ruhten und nur zwei Sitze hatten, einen für den Kourier, den andern für den Fahrgast. Die Räder waren mit langen Naben bewaffnet, die dazu dienten, andere Fuhrwerke in respektvoller Entfernung zu halten, und die man noch auf deutschen Landstraßen zu sehen bekommt. Der Depeschenkoffer, ein riesiger langer Kasten, war hinten angebracht und aus einem Stück mit dem Kabriolett. Der Koffer war schwarz, das Kabriolett gelb angestrichen.

      Diese Wagen, die heutzutage vollständig abgekommen sind, sahen ungestaltet und bucklig aus. Wenn man sie aus der Ferne sah, glichen sie jenen Kriechthieren, die man, glaube ich, Termiten nennt und einen dünnen Vorderleib haben, während der hintere Theil des Körpers sehr stark ist. Sie fuhren übrigens sehr schnell. Die Briefpost, die um ein Uhr Nachts von Arras nach der Ankunft des Pariser Kouriers, abfuhr, traf in Montreuil-sur-Mer vor fünf Uhr Morgens ein.

      In jener Nacht stieß das Postkabriolett auf dem Wege von Hesden nach Montreuil-sur-Mer bei der Biegung einer Straße; eben als es in die Stadt einfahren wollte, mit einem kleinen Tilbury heftig zusammen, der nach der entgegengesetzten Richtung fuhr und in dem nur eine Person saß, ein Mann in einen Mantel gehüllt. Der Kurier rief ihm zu, er solle anhalten; aber der Andre hörte nicht auf ihn und eilte in scharfem Trabe weiter.

      »Der hat's verteufelt eilig!« meinte der Kurier.

      Der sich so beeilte, war derselbe Mann, dessen bemitleidenswerten Seelenkampf wir oben beschrieben haben.

      Wo wollte er hin? Er hätte es nicht sagen können. Warum eilte er so? Er wußte es nicht. Er fuhr auf's Gerathewohl vor sich hin? Wohin? Ohne Zweifel nach Arras; aber vielleicht auch noch anderswohin. Zeitweise fühlte er dies und erschrack. Er fuhr in die dunkle Zukunft, wie in einen Abgrund hinein. Es trieb, es zog ihn etwas hin. Was in ihm vorging, könnte Niemand sagen; Alle aber werden es verstehen. Welcher Mensch hat nicht wenigstens ein Mal in seinem Leben die dunkle Höhle des Unbekannten betreten?

      Er hatte überhaupt nichts beschlossen, nichts entschieden, nichts geregelt, nichts abgemacht. Keiner der Akte seines Gewissens war ein endgültiger. Er stand immer am Anfang.

      Warum begab er sich nach Arras?

      Er wiederholte sich unaufhörlich seine Auffassung der Lage, wie er sie sich schon, als er den Wagen bei Scaufflaire bestellte, gebildet hatte. Wie die Sache auch ablaufen würde, dachte er, es könne nicht schaden, wenn er Alles mit seinen eigenen Augen sähe und selber die Entwickelung der Dinge beurtheile. Das gebiete ihm sogar die Vorsicht. So sei er der Gefahr ausgesetzt, zu ängstlich, zu skrupulös zu verfahren. Wüßte er erst, weß Geistes Kind Champmathieu sei, wäre es ein schlechter Kerl, so würde er sich kein Gewissen mehr daraus zumachen brauchen, daß er ihn an seiner Statt in's Zuchthaus wandern ließe. Allerdings würde Javert und Brevet, Chenildieu, Cochepaille zur Stelle sein; aber die würden ihn sicherlich nicht wiedererkennen. Das wäre! Javert lagen dergleichen Vermuthungen wer weiß wie fern. Alle hätten nun einmal Verdacht auf Champmathieu, und solch ein Verdacht sei schwer zu entwurzeln. Es sei also nichts zu befürchten. Eine schwere Prüfung wäre es freilich, aber er würde sie überstehen. Hänge doch sein Schicksal, möge ihm noch so Schlimmes drohen, von ihm ab. Namentlich an diesen Gedanken klammerte er sich.

      Im Grunde genommen, freilich hätte er lieber nicht nach Arras gehen mögen.

      Trotzdem ging er.

      Während er sich diesen trübsinnigen Grübeleien hingab, peitschte er von Zeit zu Zeit sein Pferdchen, das wacker seine Schuldigkeit that.

      In dem Maße, wie sein Wagen vorwärts kam, fühlte er etwas in sich, das mehr und mehr zurückwich.

      Bei Tagesanbruch befand er sich auf freiem Felde; Montreuil-sur-Mer lag weit hinter ihm. Der Horizont färbte sich weiß, vor Madeleines Augen glitten, ohne daß er sie recht gewahrte, all die frostigen Gestalten hin, die dem Blick des Beschauers das Grauen eines Wintertages darbietet. Man kann auch des Morgens, eben so gut wie des Abends, graulige Dinge zu sehen bekommen. Er, freilich, sah sie nicht, aber ohne, daß er es inne wurde, so zu sagen auf physische Weise, verfinsterten die schwarzen Schatten der Bäume und Hügel sein wild aufgeregtes Gemüth noch mehr.

      Jedesmal, wenn er an einem der hier sehr dünn gesäten Häuser vorbeikam, dachte er sich: »Wie glücklich, die schlafen dürfen!

      Der Hufschlag des Pferdes, das Geklingel der Glöckchen, das Rädergerassel, einförmige Geräusche, die sich angenehm und gemüthlich anhören, wenn man guter Dinge ist, hatten für sein Ohr einen grausigen Klang.

      Es war heller Tag, als er in Hesdin ankam. Er hielt vor einer Herberge an, um seinen Schimmel verschnaufen und füttern zu lassen.

      Das Pferd war, wie Scaufflaire richtig gesagt hatte, von boulognischer Race, die verschiedne Fehler z. B. einen zu starken Kopf und zu starken Bauch hat, aber dafür besaß es eine breite Brust, ein starkes Kreuz, magre und schlanke Beine und solide Füße, so unschön diese Race auch sein mag sie ist kräftig und gesund. Das brave Thierchen hatte in zwei Stunden seine fünf Meilen zurückgelegt und kein Tropfen Schweiß war an seinem Kreuz zu sehen.

      Madeleine war in dem Wagen sitzen geblieben. Da bückte sich plötzlich der Stallknecht, der den Hafer herbeibrachte und musterte scharf das linke Rad.

      »Fahren Sie weit?« forschte er dann.

      Zerstreut entgegnete Madeleine:

      »Warum?«

      »Kommen Sie weither?« forschte der Stallknecht weiter.

      »Fünf Meilen habe ich jetzt hinter mir.«

      »Hm!«

      »Was haben Sie denn?«

      Der Stallknecht beugte sich abermals nieder, schwieg eine Weile und richtete sich dann wieder in die Höhe mit den Worten:

      »Ja, sehen Sie, das Rad da mag ja fünf Meilen hinter sich gekriegt haben; jetzt aber hält


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