Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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das Regenwasser auf sein Grundstück leitet und sein Haus unterwäscht. Nachher konstatiren Sie Kontraventionen, auf die ich aufmerksam gemacht worden bin, bei der Wittwe Doris in der Rue Guibourg und bei Frau René le Bossé in der Rue du Garraud-Blanc, und nehmen Sie Protokoll auf. Aber da gebe ich Ihnen viel Arbeit auf, und Sie sagten mir ja wohl vorhin, Sie müßten in acht oder zehn Tagen verreisen? ... Nach Arras ...«

      »Früher, Herr Bürgermeister.«

      »Wann denn?«

      »Ich glaubte dem Herrn Bürgermeister gesagt zu haben, die Sache käme morgen zur Verhandlung, und daß ich heute Abend mit der Post abreisen würde.«

      Madeleine machte eine kaum bemerkbare Bewegung.

      »Wieviel Zeit wird die Verhandlung in Anspruch nehmen?«

      »Höchstens einen Tag. Das Urtheil wird spätestens in der Nacht ausgesprochen werden. Aber ich werde es nicht abwarten, – schon weil ich vorher weiß, wie es ausfallen wird, und gleich nach meiner Vernehmung zurückkommen.«

      »Sehr wohl!« bemerkte Madeleine und bedeutete Javert mit einer Handbewegung, daß er entlassen sei.

      Aber Javert ging nicht.

      »Verzeihung, Herr Bürgermeister, ...«

      »Was giebt's denn noch?« fragte Madeleine.

      »Herr Bürgermeister, ich muß Sie noch an etwas erinnern.«

      »Woran denn?«

      »Daß ich abgesetzt werden muß.«

      Madeleine erhob sich von seinem Sitze.

      »Javert, Sie sind ein Ehrenmann, den ich hoch achte. Sie übertreiben Ihr Vergehen. Uebrigens ist das auch wieder eine Beleidigung, die mich allein angeht. Sie verdienen Befördrung, nicht Absetzung. Ich will, daß Sie auf Ihrem Posten bleiben.«

      Javert richtete auf Madelaine seine ehrbaren Augen, auf deren Grunde sein wenig erleuchtetes, aber strenges und reines Gewissen unverhüllt zu erkennen war, und sagte mit ruhiger Stimme:

      »Das, Herr Bürgermeister, kann ich Ihnen nicht zugestehn».

      »Ich wiederhole Ihnen, daß die Sache mich angeht.«

      Aber Javert, der unentwegt nur seinen eigenen Gedankengang verfolgte, fuhr fort:

      »Was das Uebertreiben anbelangt, so ist das völlig ausgeschlossen. Nach meinein Verstande verhält sich die Sache folgendermaßen. Ich habe Sie in falschem Verdacht gehabt. Das will freilich nichts besagen. Der Verdacht ist eine unsrer Berufspflichten, obschon es gewiß über das erlaubte Maß hinausgeht, wenn Einer einen Verdacht auf seinen Vorgesetzten wirft. Aber ich habe Sie ohne Beweise, in einem Anfall von Wuth, um mich zu rächen, als einen Zuchthäusler denunziert, Sie einen hochgestellten Mann, einen Bürgermeister, eine hohe Gerichtsperson! Das ist das Schlimme. Das ist sehr schlimm. Ich, ein Diener der Obrigkeit, habe die Obrigkeit in Ihrer Person beleidigt. Hätte Einer von meinen Untergebenen etwas Derartiges sich zu Schulden kommen lassen, so hätte ich den Menschen für unwert erklärt, Beamter zu bleiben und hätte ihn mit Schimpf und Schande fortgejagt. Also –! – Noch Eins, Herr Bürgermeister. Ich bin oft in meinem Leben strenge gewesen. Gegen Andere. So verlangte es die Gerechtigkeit und ich that wohl daran. Wäre ich nun jetzt nicht strenge gegen mich, so würde alles, was ich Gerechtes gethan habe, ungerecht sein. Darf ich mich mehr schonen als Andre? Nein. Wie? Ich hätte nur dazu getaugt, Andre zu bestrafen und nicht auch mich! Dann wäre ich ja ein Nichtswürdiger, und Diejenigen, die mich einen Halunken nennen, hätten Recht. Herr Bürgermeister, ich wünsche nicht, daß Sie mich mit Güte behandeln. Ihre Güte gegen Andre hat mir das Blut schon genug in Wallung gebracht; gegen mich also wäre sie vollends nicht angebracht. Die Güte, die darin besteht, daß man einer öffentlichen Dirne Recht giebt gegen einen wohlsituirten Bürger, einem Polizeibeamten gegen den Bürgermeister, Dem, der unten steht, gegen den Hochgestellten, eine solche Güte nenne ich eine schlechte Güte. So etwas untergräbt die Ordnung. Du lieber Himmel! Gut sein ist leicht, aber gerecht sein ist schwer. Seien Sie versichert, wären Sie Der gewesen, für den ich Sie hielt, ich würde nicht gut gegen Sie gewesen sein! Ich hätte es Ihnen besorgt! Also, Herr Bürgermeister, ich muß gegen mich so sein, wie ich gegen jeden Andern sein würde. Wenn ich mit Gesindel und Verbrechern kurzen Prozeß machte und sie empfindlich abstrafte, habe ich oft zu mir selber gesagt: »Du, wenn Du mal über die Stränge schlägst, wenn ich Dich je auf einem Vergehen ertappe, dann bist Du Deiner Sache sicher!« Jetzt habe ich über die Stränge geschlagen, jetzt habe ich mich vergangen, – folglich gehört es sich auch, daß ich kassirt, daß ich weggejagt werde. Ich habe gesunde Arme und kann arbeiten. Herr Bürgermeister, das Interesse des Dienstes erheischt, daß ein Beispiel statuirt wird. Ich beantrage also die Absetzung des Polizeiinspektors Javert«

      Der halb demüthige, halb stolze Ton, die Verzweiflung und Sicherheit, womit er alles dieses sagte, drückte dem wunderlichen Heiligen ein Gepräge echter Seelengröße auf.

      »Wir wollen sehen,« sagte Madeleine und reichte ihm die Hand.

      Javert fuhr zurück und entgegnete herb abweisend:

      »Verzeihung, Herr Bürgermeister, das geht nicht an. Ein Bürgermeister darf keinem Spitzel die Hand geben.

      »Ja wohl – Spitzel,« murmelte er zwischen den Zähnen vor sich hin. »Ein schlechter Polizeibeamter verdient, daß man ihn einen Spitzel schimpft.«

      Darauf verneigte er sich tief und ging auf die Thür zu. Hier aber wandte er sich noch einmal um und sagte, wieder mit gesenkten Augen:

      »Herr Bürgermeister, ich werde so lange meinen Dienst thun, bis mein Posten durch einen Andern besetzt ist.«

      Er ging hinaus, und Madeleine horchte nachdenklich auf das Geräusch seines festen und sichern Trittes, das allmählich auf dem Flur verhallte.

Siebentes Buch. Der Fall Champmathieu

      I. Schwester Simplicia

      Die Ereignisse, die wir jetzt berichten werden, sind nicht sämtlich in Montreuil-sur-Mer bekannt geworden; aber das Wenige, das an die Oeffentlichkeit gedrungen ist, hat einen so tiefen, nachhaltigen Eindruck gemacht, daß unsre Erzählung eine bedenkliche Lücke aufweisen würde, wollten wir nicht Alles recht ausführlich berichten.

      Vielleicht wird der Leser Manches darunter für unwahrscheinlich halten; die Achtung für die Wahrheit zwingt uns aber, auch derartige Einzelheiten als Thatsachen zu vertreten.

      Am Nachmittag des Tages, wo Javert bei ihm gewesen, ging Madeleine seiner Gewohnheit gemäß zu Fantine in den Krankensaal.

      Ehe er indessen denselben betrat, fragte er nach Schwester Simplicia.

      Die beiden Nonnen, die den Dienst in Madeleines Hospital übernommen hatten, und wie alle barmherzigen Schwestern der Kongregation des heiligen Lazarus angehörten, hießen Schwester Perpetua und Schwester Simplicia.

      Perpetica war eine einfache unverfeinerte Bäuerin, die bei dem Herrgott mit demselben Sinne in Dienst gegangen, wie man sonst bei irdischen Herrschaften in Kondition tritt. Nonne und Köchin war für sie der Hauptsache nach dasselbe. Dieser Menschenschlag ist bei den geistlichen Orden in zahlreichen Exemplaren vertreten; läßt sich doch aus dieser groben Masse leicht genug ein Kapuziner, beziehungsweise eine Ursulinerin, bilden. Solch ein derbes Menschenmaterial eignet sich vorzüglich für die niederen Arbeiten. Der Uebergang vom Ochsenhirten zum Karmeliter ist kein gewaltsamer, mühevoller. Die auf dem Dorfe und im Kloster herrschende Unwissenheit ist eine bequeme Vorbereitung und stellt den Dörfler von vornherein auf dieselbe Stufe wie den Mönch. Man braucht bloß den Bauernkittel etwas länger zu machen, so wird eine Mönchskutte daraus. So war auch Schwester Perpetua aus Marines bei Pontoise eine derbe, rothbackige zungenfixe Nonne, die nach wie vor ihren Bauerndialekt redete, und die aller Zartheit und Leisetreterei entschieden abhold, die Kranken anranzte, und wenn sie irgendwie geärgert worden war, ihre brummige Laune auch Sterbenden gegenüber nicht zum Schweigen brachte.

      Schwester Simplicia war weiß wie ein Wachsbild,


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