Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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meine Cosette sehen?«

      »Vielleicht morgen früh,« pflegte er zu antworten. »Ich erwarte sie jeden Augenblick.«

      Dann strahlte das blasse Gesicht der Mutter vor Freude.

      »O, wie glücklich mich das machen wird!«

      Wir haben schon berichtet, daß ihre Genesung keine Fortschritte machte. Im Gegentheil, ihr Befinden schien sich von Woche zu Woche zu verschlimmern. Die plötzliche Erkältung der Haut durch den Schnee hatte eine Unterdrückung der Transpiration bedingt, in Folge deren ihre alte Krankheit mit besondrer Heftigkeit herausgetreten war. Man folgte damals bei dem Studium und der Behandlung Brustkranker den schönen Indikationen Laënnec's. Der Arzt auskultirte danach auch Fantine und – schüttelte den Kopf.

      »Wie steht's?« fragte ihn Madeleine.

      »Sie hat ja wohl ein Kind, das sie zu sehen wünscht?«

      »Ja.«

      »Dann lassen Sie es bald kommen.«

      Madeleine fuhr zusammen.

      »Was hat der Arzt gesagt?« forschte Fantine.

      Madeleine zwang sich zu lächeln.

      »Er sagt, wir sollen das Kind baldigst holen. Das würde Ihnen die Gesundheit bald wieder geben.«

      »Da hat er Recht. Was haben aber die Thénardiers blos, daß sie Cosette da behalten? Sie wird aber doch schließlich kommen, und dann wird das Glück in meiner Nähe sein.«

      Freund Thénardier gab aber das Kind nicht heraus und wußte immer neue Ausflüchte. Cosette sei etwas leidend und könne bei der kalten Witterung nicht reisen. Dann wären auch noch einige Läpperschulden zu bezahlen, über die er noch die Bescheinigungen auftreiben müsse. U.s.w.

      »Ich werde Jemand hinschicken,« sagte endlich Vater Madeleine. »Im Nothfall mache ich mich selber auf den Weg.«

      Vorläufig aber setzte er noch einen Brief im Namen Fantinens auf und ließ ihn von ihr unterzeichnen:

      »Herr Thénardier!

      Uebergeben Sie Cosette dem Ueberbringer dieses Briefes.

      Alle Ihre Ausgaben sollen Ihnen wiedererstattet werden.

      Mit Hochachtung.

      Fantine.«

      Unterdessen aber ereignete sich ein bedeutungsvoller Zwischenfall. Mögen wir noch so geschickt an dem Marmorblock unseres Geschickes herummeißeln, die schwarze Ader des Unglücks tritt immer wieder vor.

      II. Wie aus Jean Champ wird

      Eines Morgens war Madeleine mit der Erledigung einiger dringlichen Angelegenheiten beschäftigt für den Fall, daß er sich genöthigt sehen sollte, die Reise nach Montfermeil anzutreten, als plötzlich der Polizeiinspektor Javert sich anmelden ließ. Bei der Erwähnung dieses Namens vermochte sich Madeleine nicht einer unangenehmen Erregung zu erwehren. Seit der Scene im Polizeibureau war ihm Javert mehr als je aus dem Wege gegangen, und Madeleine hatte ihn auch seitdem nicht wieder gesehen.

      »Bitten Sie ihn, näher zu treten.«

      Javert kam herein.

      Madeleine blieb vor dem Kamin sitzen, blätterte und schrieb weiter an den Anmerkungen, die er zu Protokollen über Kontraventionen gegen Straßenpolizeiverordnungen hinzuzusetzen hatte. Er ließ sich in dieser Arbeit von Javert nicht stören. Denn er erinnerte sich der armen Fantine und es beliebte ihm seinen Untergebenen kühl zu empfangen.

      Javert verneigte sich ehrerbietigst, aber der Herr Bürgermeister drehte sich nicht einmal um, ihn anzusehen.

      Nun trat Javert vor, ohne das Stillschweigen zu brechen.

      Ein Physiognomiker, der Javerts Charakter gekannt hätte, der längere Zeit diesem im Dienste der Civilisation stehenden Wilden, diese sonderbare Mischung von römischer, spartiatischer, mönchischer und soldatischer Strenge, diesen einer Lüge unfähigen Spion, diesen keuschen Spitzel studirt hätte, ein Physiognomiker, dem Javert's geheime und hartnäckige Abneigung gegen Madeleine, sein Konflikt mit dem Bürgermeister wegen Fantine bekannt gewesen wäre, und der ihn in diesem Augenblick betrachtet hätte, würde sich gefragt haben: »Was ist mit dem Mann vorgegangen?« Wer seine Gradheit, seine Aufrichtigkeit, Rechtschaffenheit, Starrheit und Härte kannte, mußte sehen, daß Javert in seinem Innern einen heftigen Sturm überstanden hatte. Denn was in seiner Seele vorging, das spiegelte sich auch stets auf seinem Gesicht ab. Er war wie alle gewaltthätigen Menschen, unvermittelten Gemüthsumstimmungen ausgesetzt. Heute nun schien sein Gesichtsausdruck ganz absonderlich und eigenartig. Bei seinem Eintritt und während er sich verneigte, stand in seinen Augen weder Groll, noch Zorn, noch Mißtrauen zu lesen. Dann war er einige Schritte hinter dem Lehnstuhl des Bürgermeisters stehen geblieben und jetzt war seine Haltung eine fast diziplinarische, ruhige und kalte, die eines Menschen, der nie sanftmüthig und immer geduldig gewesen ist; er wartete, ohne ein Wort zu sprechen, mit echter Demuth und stiller Ergebenheit, daß es dem Herrn Bürgermeister belieben möge, sich umzuwenden, den Hut in der Hand, die Augen zur Erde gesenkt, halb wie ein Soldat vor seinem Offizier, halb wie ein Angeklagter vor seinem Richter. Alle Gefühle, wie alle Erinnerungen, die man ihm hätte zuschreiben können, waren nicht mehr vorhanden. Auf seinem marmorharten und simplen Gesicht lagerte nur eine düstere Traurigkeit. Alles an ihm athmete Erniedrigung und Festigkeit, so wie eine mit Muth gepaarte Niedergeschlagenheit.

      Endlich legte der Bürgermeister die Feder nieder und wandte sich halb nach ihm um:

      »Nun, was wünschen Sie, Javert? Was giebts?«

      Javert schwieg eine Weile, als sammle er seine Gedanken, und sprach dann traurig und feierlich, aber doch auch in schlichter Weise:

      »Ein schweres Vergehen, Herr Bürgermeister.«

      »Was für eins?«

      »Ein niederer Beamter hat es an dem Respekt fehlen lassen, den er einer hohen, obrigkeitlichen Person schuldete. Ich bin gekommen, Herr Bürgermeister, diese Thatsache, wie es meine Pflicht ist, zu ihrer Kenntniß zu bringen.«

      »Wer ist der Beamte?« fragte Madelaine.

      »Ich.«

      »Und welche obrigkeitliche Person hätte sich über Sie zu beklagen?«

      »Sie, Herr Bürgermeister.«

      Madeleine richtete sich jetzt in seinem Lehnstuhl hoch auf, während Javert mit strengem Ernst und mit gesenkten Augen fortfuhr:

      »Herr Bürgermeister, ich ersuche Sie, meine Absetzung zu veranlassen.«

      Voller Staunen that Madeleine den Mund auf, aber Javert kam ihm zuvor:

      »Der Herr Bürgermeister werden einwenden, daß ich meine Entlassung nachsuchen könnte, aber das genügt nicht, das wäre ein Abschied mit Ehren. Ich habe aber gefehlt und verdiene Strafe. Es gehört sich, daß ich mit Schimpf und Schande fortgejagt werde.«

      Und nach einer Pause fuhr er fort:

      »Herr Bürgermeister, Sie sind neulich mit Unrecht streng gegen mich gewesen; lassen Sie heute eine gerechte Strenge walten.«

      »Wozu denn aber? Was reden Sie da Alles zusammen? Worin besteht das Vergehen, dessen Sie Sich mir gegenüber schuldig gemacht hätten? Was haben Sie verbrochen? Sie klagen Sich an und wollen Ihren Posten aufgeben ...«

      »Abgesetzt werden, Herr Bürgermeister.«

      »Gut. Sehr schön. Aber ich werde nicht klug daraus.«

      »Ich werde Ihnen die Sache erklären, Herr Bürgermeister.«

      Javert seufzte tief auf und sprach trauervoll und kalt:

      »Herr Bürgermeister, vor sechs Wochen habe ich mich jener Dirne wegen über Sie geärgert und habe Sie denunzirt.«

      »Denunzirt?«

      »Bei der Pariser Polizeipräfektur denunzirt.«

      Madeleine


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