Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo

Les Misérables / Die Elenden - Victor Hugo


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      »Kein Wort mehr!«

      »Indessen ...«

      »Hinaus!«

      Javert empfing den Schlag aufrecht, von vorn und mitten in die Brust, wie ein russischer Soldat. Er verneigte sich tief und ging.

      Fantine trat bei Seite um ihn vorbeizulassen, und sah ihn mit grenzenlosem Erstaunen an.

      Auch sie war außer aller Fassung. Zwei einander feindliche Gewalten hatten sich um sie gestritten. Zwei Männer, die ihre Freiheit, ihr Leben, ihr Kind in ihrer Hand hielten, hatten gegeneinander gekämpft, der Eine, um sie in die Finsternis des Verderbens zu stürzen, der Andre, um sie dem Lichte zuzuführen. Während dieses Kampfes, den die Furcht ihr noch gewaltiger erscheinen ließ, hatten die beiden Männer etwas Übermenschliches für sie angenommen; der Eine war ein Dämon gewesen, der Andre erschien ihr ein Engel des Guten zu sein. Der Engel hatte den Dämon überwunden, und sie erbebte vom Kopf bis zu den Füßen bei dem Gedanken, daß sie gerade ihn, ihren Befreier haßte, den Bürgermeister, den sie seit langer Zeit als den Urheber ihres Unglücks betrachtet hatte, den Madeleine! Der hatte sie, gerade als sie ihn so abscheulich insultirte, gerettet. War sie denn in einem Irrthum befangen? Sollte sie mit ihrer ganzen Denkweise eine Aenderung vornehmen? Sie begriff das Alles nicht und zitterte. In sinnloser Geistesverwirrung stand sie da und bei jedem Wort, das Madeleine sprach, fühlte sie, wie die gräßliche Finsterniß des Hasses sich auflöste, und in ihr Herz wieder Freude, Hoffnung und Liebe einzogen.

      Nachdem Javert hinausgegangen war, wendete sich Madeleine nach ihr hin und sprach mit langsamer Stimme, wie Einer, der seine Thränen unterdrückt:

      »Ich habe Alles gehört. Ich wußte nichts von alle dem, was Sie erzählt haben. Ich glaube, ich fühle, daß es wahr ist. Mir war sogar unbekannt, daß Sie aus meiner Fabrik entlassen waren. Warum haben Sie Sich nicht an mich gewendet? Aber lassen wir das. Ich werde Ihre Schulden bezahlen und Ihre Kleine kommen lassen, oder Sie können zu ihr gehen. Bleiben Sie hier, oder gehen Sie nach Paris oder wo Sie sonst hin wollen. Die Sorge für Ihren und Ihres Kindes Unterhalt übernehme ich. Sie brauchen nicht mehr zu arbeiten, wenn Sie nicht wollen. Alles Geld, das Sie brauchen, bekommen Sie in Zukunft von mir. Sie werden wieder brav und gut werden, wenn sich Ihnen das Glück wieder zuwendet. Und um es gleich jetzt zu sagen, – wenn Alles sich so verhält, wie Sie behaupten, und ich zweifle nicht im Geringsten daran, – Sie haben nie aufgehört tugendhaft und Gott angenehm zu sein. Sie arme Frau!«

      Das war mehr, als die arme Fantine fassen konnte. Cosette wieder zu bekommen! Ihren scheußlichen Lebenswandel aufgeben zu können! Frei, reich, glücklich, geachtet mit ihrer Tochter zu leben! Und alle diese Herrlichkeiten sich so unvermittelt aus dem tiefsten Elend entfalten zu sehen! Sie sah ihren Retter mit wirren, umflorten Blicken an und schluchzte nur: Oh! Oh! Dann versagten ihr die Kniee den Dienst, sie fiel Madeleine zu Füßen, und ehe er es verhindern konnte, ergriff sie seine Hand und drückte ihre Lippen darauf.

Sechstes Buch. Javert

      I. Anfang der Ruhe

      Madeleine ließ Fantine nach dem Hospital schaffen, das er in seinem eignen Hause eingerichtet hatte. Er vertraute sie der Obhut der Schwestern an, die sie zu Bett brachten. Es stellte sich ein hitziges Fieber ein, und sie redete einen Theil der Nacht irre, schlummerte aber schließlich ein.

      Am nächsten Morgen erwachte sie, hörte Jemand dicht bei ihrem Bett atmen, hielt den Vorhang bei Seite und sah Madeleine da stehen. Er betrachtete mit einem Blick voller Demuth, Mitleid und Angst ein an der Wand befestigtes Krucifix.

      Madeleine war für Fantine jetzt ein höheres Wesen, eine verklärte Lichtgestalt. Er schien zu beten, und sie wagte lange Zeit nicht ihn zu stören. Endlich aber fragte sie furchtsam:

      »Was machen Sie denn da?

      Madeleine stand eine Stunde so da. Er wartete, ob Fantine erwachen würde. Er ergriff ihre Hand, befühlte ihren Puls und sagte:

      »Wie befinden Sie Sich?«

      »Gut. Ich habe geschlafen. Es geht besser, glaube ich. Es wird nichts von Bedeutung sein.«

      Nun erst beantwortete er Fantinens Frage:

      »Ich betete zu dem Märtyrer da oben.«

      »Für die Märtyrerin, die hier liegt,« fügte er in seinem Innern hinzu.

      Madeleine hatte in der Nacht und am Morgen Erkundigungen über Fantine eingezogen und wußte jetzt Alles, kannte alle ihre traurigen Erlebnisse.

      »Sie haben viel Schweres durchgemacht, Sie Arme. Aber beklagen Sie Sich nicht, denn Sie haben damit die Anwartschaft auf die Freuden des Paradieses erworben, und daß Ihnen die Menschen auf andre Weise dazu verhelfen würden, war nicht zu erwarten: Sie verstehen es nun einmal nicht besser. Die Hölle, aus der Sie jetzt herausgekommen sind, war die Vorhalle zum Himmel. Da mußten Sie zuerst hindurch.«

      Er seufzte tief auf. Sie aber lächelte ihn selig an, und dies Lächeln war nicht mehr häßlich anzusehen, trotz der Zähne, die ihr fehlten.

      Noch in derselben Nacht schrieb Javert einen Brief, den er in der Frühe in dem Postbüreau Montreuil-sur-Mer aufgab. Die Adresse lautete: An Herrn Chabouillet, Sekretär des Herrn Polizeipräfekten, in Paris. Da der Vorfall, der sich in dem Polizeibüreau abgespielt hatte ruchbar geworden war, so glaubte die Direktrice des Postbüreaus und einige andre Neugierige, die den Brief vor seiner Befördrung nach Paris sahen, daß Javert seine Entlassung eingereicht habe.

      Madeleine beeilte sich an die Thénardiers zu schreiben. Er schickte ihnen statt der hundert und zwanzig Franken, die Fantine schuldig war, dreihundert, mit der Weisung, er solle sich bezahlt machen und das Kind nach Montreuil-sur-Mer bringen, wo die kranke Mutter ihrer warte.

      Freund Thénardier stutzte. »Alle Wetter! sagte er zu seiner Frau. Das Balg halten wir fest. Aus der Lerche wird jetzt eine Milchkuh. Ich kann mir schon denken, was dahinter steckt. Irgend ein Schafskopf hat sich in die Mutter verliebt.«

      Er parirte den Hieb mit einer gut zusammengestellten Rechnung über fünfhundert Franken. Auf derselben figurirten u. a. hauptsächlich zwei unanfechtbare Posten, nämlich die Quittung eines Arztes und die eines Apothekers, laut deren Thénardier ihnen dreihundert Franken ausgezahlt hatte – für Pflege und Arzneien, die Eponine und Azelma während langer Krankheit bekommen. Denn Cosette, wie schon erwähnt, war nicht krank gewesen. Es handelte sich blos um eine kleine Namensfälschung, Thénardier schrieb unter die Rechnung: Auf Abschlag erhalten ... dreihundert Franken.

      Madeleine schickte umgehend noch dreihundert Franken und schrieb: »Bringen Sie schleunigst Cosette.«

      »Alle Hagel! rief Thénardier. »Das Kind geben wir nicht raus.«

      Mittlerweile machte Fantinens Wiederherstellung keine weiteren Fortschritte. Sie befand sich noch immer in dem Hospital.

      Die barmherzigen Schwestern hatten Anfangs »die Dirne« nicht gut aufgenommen. Wer die Reliefs in der Kathedrale zu Reims je gesehen, wird bemerkt haben, daß bei den klugen Jungfrauen zum Unterschiede von den thörichten, die Unterlippe verächtlich emporgeschoben ist. Diese Geringschätzung, die Vestalinnen gegenüber Hetären zur Schau tragen, ist einer der am tiefsten eingewurzelten Instinkte weiblicher Würde, und auch die barmherzigen Schwestern hatten sie empfunden, und zwar um so stärker, als die Religion sie hierin bestärkte. Aber in wenigen Tagen wurden sie durch Fantinens demüthige und sanfte Art entwaffnet. Besonders rührend aber schien ihre Liebe zu ihrem Kinde. Eines Tages hörte man sie halb im Fieberdelirium sagen: Ich bin eine Sünderin gewesen, aber wenn mein Kind wieder bei mir sein wird, dann ist das ein Zeichen, daß Gott mir vergeben hat. So lange ich ein schlechtes Leben führte, hätte ich meine Cosette nicht um mich haben mögen; ich würde es nicht ertragen haben, wenn sie mich mit erstaunten und betrübten Augen angesehen hätte. Und doch war es ihretwegen, daß ich mich versündigt habe, und deshalb verzeiht mir Gott. Wie mir das wohl thun wird, wenn ich erst in die unschuldigen Augen blicken werde. Sie weiß von nichts, der kleine Engel. In dem Alter, meine Schwestern, sind die Engelsflügel noch nicht abgefallen.«


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