WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN. Eberhard Weidner
grub wie ein Besessener. Der Schweiß lief ihm nicht nur übers Gesicht, sondern längst am ganzen Körper herunter und durchtränkte seine Kleidung. Er schwitzte und fröstelte zugleich, denn ein kühler Wind wehte durch die Bäume, unter denen er stand und grub, und brachte die Blätter zum Rascheln. In seinen Ohren klang es beinahe so, als unterhielten sich die Bäume flüsternd über ihn und das, was er hier tat.
Doch auf all diese Dinge achtete er nur am Rande. Denn viel mehr interessierte ihn die Erde unter seinen Füßen und das, was sie vermutlich enthielt.
Seine Bewegungen wurden immer hektischer, je größer das Loch wurde, das er aushob. Er achtete auch nicht darauf, ob jedes Mal genug Erde auf dem Blatt des Spatens war, damit sich die ruckartige, beinahe wütende Bewegung, mit der er die Erdbrocken hinter sich schleuderte, auch lohnte. Ihm kam es nicht darauf an, effektiv und kräftesparend zu graben und mit der ausgehobenen Erde neben dem Loch einen ordentlichen Haufen zu bilden. Ihm kam es einzig auf Schnelligkeit an. Er hatte es eilig, denn er wollte endlich Gewissheit haben, auch wenn er schon jetzt wusste, dass ihm die Gewissheit vor allem Kummer bereiten und Leid zufügen würde.
Obwohl er erst vor wenigen Minuten zu graben begonnen hatte, war die ungleichmäßige Grube unter seinen Füßen bereits knöcheltief. Längst schnappte er keuchend nach Luft, gönnte sich aber keine Pause. Ohne Unterlass grub er, als hinge sein Leben davon ab.
Und vielleicht war es ja auch so. Er war sich in dieser Hinsicht nämlich noch nicht sicher.
Was werde ich tun, wenn es tatsächlich wahr ist?, hatte er sich in den letzten Minuten mehr als einmal bang gefragt. Werde ich den Mut haben, die richtigen Konsequenzen aus dem, was ich finde, zu ziehen? Das Richtige zu tun? Das, was getan werden muss?
Er kannte die Antworten auf diese Fragen nicht. Vermutlich würde er sie erst wissen, wenn er fand, wonach er suchte. Falls es tatsächlich hier vergraben war. Denn noch war nichts sicher. Noch hatte er Hoffnung, dass es nur ein Irrtum war.
Die Arme wurden mit jedem Heben des Spatens schwerer. Seine Unterarmmuskeln verkrampften sich immer wieder aufgrund der ungewohnten Belastung durch die heftigen, ruckartigen Bewegungen. Außerdem schmerzte sein Rücken, weil der Griff des Spatens zu kurz war und er gebückt graben musste. Als die Krämpfe in den Unterarmen zu stark wurden, musste er doch eine kurze Pause einlegen. Er lehnte den Spatengriff gegen sein rechtes Bein, dessen Knie ebenso wie das andere vor Anspannung und Angst zitterte. Dann massierte er sich zuerst mit der linken Hand den rechten Unterarm und anschließend umgekehrt, bis sich die schmerzhafte Verkrampfung ein bisschen gelockert hatte.
Wie gut das tat, als der Schmerz nachließ. Zumindest was den körperlichen Schmerz betraf, denn den vermochte er halbwegs zu lindern. Im Gegensatz zu seinem seelischen Leid. Die Wunde, die sein Herz davongetragen hatte, war zu tief und zu schwer, als dass sie heilbar wäre. Und von dem, was hier vergraben lag, würde es abhängen, ob sie letzten Endes auch tödlich war.
Er legte den Kopf in den Nacken und gönnte sich noch ein paar weitere Augenblicke, um zu verschnaufen und wieder ein wenig zu Atem zu kommen. Durch vereinzelte Lücken im Laubwerk der Bäume, die ihn umgaben und überragten, konnte er den Nachthimmel sehen, der vom Mond erhellt wurde, der in dieser Nacht noch immer fast voll und rund war. Einzelne Strahlen schienen auch zwischen den Ästen hindurch auf ihn und den erdigen Untergrund, auf dem er stand und ein Loch aushob. Das Mondlicht war Beleuchtung genug, um ihn sein makabres Werk verrichten zu lassen. Die Taschenlampe, die er von zu Hause mitgebracht hatte, hatte er deshalb wieder eingesteckt, sobald er diesen Ort gefunden und erkannt hatte, was er verbarg.
Mach weiter!
Der mentale Befehl, den er sich selbst gab, setzte ihn gleichermaßen abrupt und ruckartig in Bewegung wie einen ferngesteuerten Roboter der Druck auf den Kontrollhebel. Er nahm den Spaten, atmete noch einmal tief durch und trieb das Blatt dann mit neuer Kraft tiefer als zuvor in die Erde. Er stöhnte leise, als er einen großen Erdbrocken anhob und zur Seite warf. Der Schweiß auf seinem Körper hatte nicht einmal Zeit gehabt, vollständig zu trocknen, da brach er ihm erneut aus.
Seine Bewegungen wurden immer verbissener. Er ahnte, dass er seinem Ziel nahe war. Er konnte es kaum erwarten, dass seine Mühen und die Ungewissheit ein Ende fanden, hatte gleichzeitig aber auch furchtbare Angst davor, genau das zu finden, was er befürchtete. Erneut trieb er die Spitze des Spatens besonders tief in die Erde, indem er mit dem rechten Fuß auf die Kante des Schaufelblatts trat und es in den Boden drückte. Als er den Stiel wie einen Hebel nach unten drückte, um die Erde zu lockern, ließ er sich im ersten Moment keinen Millimeter bewegen. Er befürchtete schon, der Spaten könnte feststecken, und wollte ihn herausziehen, da spürte er, wie die Erde doch noch unter dem Druck nachgab. Er hob den Erdbrocken, der schwerer war als alle bisherigen Ladungen, mit der Schaufel aus dem Loch und ließ ihn daneben zu Boden fallen.
Erneut musste er für einen Moment verschnaufen, bevor er weitergraben konnte. Er sah nach unten, um seinen Fortschritt zu begutachten. Seine letzten Bemühungen nach der Pause waren effektiver gewesen als das planlose, hektische Buddeln zuvor. Er hatte dadurch bereits ein knietiefes Loch geschaffen. Niklas sah, dass die Erde am Rand bröckelte und nach unten rieselte. Noch während er zusah, löste sich ein größerer Erdbrocken und purzelte zum Grund des Lochs. Und aus der Lücke, die dadurch an der Seitenwand des Lochs entstanden war, klappte wie ein makabrer Scherzartikel eine leichenblasse, menschliche Hand herunter.
Ihm stockte der Atem, während auch das hämmernde Herz in seiner Brust vor Schreck mehrere Schläge ausließ, ehe es in noch schnellerem Tempo weitergaloppierte. Er stöhnte leise, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Der Griff des Spatens entglitt seinen gefühl- und kraftlosen Fingern. Gleichzeitig gaben seine zitternden Knie unter dem Gewicht des Körpers nach und knickten ein. Er fiel auf die Knie, während er weiterhin wie gebannt auf den menschlichen Körperteil starrte, der so plötzlich, aber gleichzeitig nicht wirklich überraschend an diesem Ort zum Vorschein gekommen war.
Die Hand und der sichtbare Teil des Gelenks waren so weiß, dass sie im fahlen Licht des Mondes, das durch eine Lücke im Geäst auf sie fiel, beinahe zu leuchten schienen. Er hatte eine solche Hautfarbe noch nie bei einem Menschen gesehen. Allerdings hatte er auch noch nie eine echte Leiche zu Gesicht bekommen. Nur einige kreisrunde, dunkle Flecken auf der Handfläche, an den Spitzen mancher Finger und an den empfindlicheren Stellen zwischen den Fingern, die wie Brandmale aussahen, störten die ansonsten beinahe makellose Weiße. Das Handgelenk endete dort, wo es in den Unterarm mündete und in der Erde verschwand, und es sah auf den ersten Blick beinahe so aus, als wäre die Hand vom Rest des Körpers abgetrennt worden, der noch immer im Boden vergraben war. Das, was er vor sich sah, war nur ein kleiner Teil, der wie die Spitze eines Eisbergs aus der Erde ragte.
Er schauderte, als er zaghaft seine eigene rechte Hand in Richtung der leichenblassen Hand ausstreckte. Er schlotterte am ganzen Körper, und das nicht nur wegen der kühlen Brise, die den Schweiß auf seinem Körper trocknete und ihn frösteln ließ. Als seine eigenen, gut durchbluteten Fingerspitzen nur noch wenige Zentimeter von den blutleeren Fingern der Leiche entfernt waren, zuckte er unwillkürlich zurück.
»Nein!«, schalt er sich augenblicklich selbst und flüsterte dabei automatisch, als hätte er Angst, er könnte durch ein lautes Wort den Leichnam, dem die Hand gehörte, wieder zu gespenstischem Leben erwecken und dazu veranlassen, sich aus seinem kühlen Grab zu erheben. Er wusste natürlich, dass diese Vorstellung absurd war, und redete sich ein, er würde nur wegen der Nachbarn und des Grundstückseigentümers flüstern, die ansonsten auf sein Tun aufmerksam werden könnten. Dabei wusste er genau, dass dieser Ort ziemlich abgeschieden war und sie ihn um diese Uhrzeit vermutlich nicht einmal dann hören könnten, wenn er lauter sprechen würde. »Du musst es tun!«, fuhr er, noch immer wispernd, aber in beschwörendem Tonfall fort. »Du musst dir Gewissheit verschaffen!«
Auch wenn dich die Gewissheit umbringt?, fragte die Stimme der Vernunft in seinem Verstand, die an diesem Abend allerdings bislang kein Gehör gefunden hatte. Und auch in diesem Moment ignorierte er sie, so als hätte er die berechtigte Frage gar nicht gehört. »Du musst!«, sagte er noch einmal, diesmal ein wenig lauter, und griff beherzt nach der leblosen Hand, die vor ihm aus der Erde ragte.
Er hatte sofort erkannt, dass es sich um