WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN. Eberhard Weidner
es die alte Maschine hergab, zurück zu seinem Hof fuhr, von wo er sofort stammelnd die Polizei über den entsetzlichen Fund informierte.
Es war noch immer früh am Tag – Schäringers Armbanduhr stand auf zehn vor sieben – und trotz der Tatsache, dass es Ende Juni war, erstaunlich frisch. Der Kriminalbeamte fröstelte und zog unwillkürlich die Schultern hoch.
Obwohl der junge Mann schon vor gut anderthalb Stunden gefunden worden war und die ersten Einsatzkräfte vor einer Stunde hier eingetroffen waren, hing er noch immer am Baum. Da für ihn längst jede Hilfe zu spät kam, hatte es niemand eilig, ihn von dort herunterzuholen. Im Gegenteil, denn erst mussten alle Spuren an der Leiche, am Strick und auf dem Erdboden unmittelbar unter dem Toten gesichert werden, die ansonsten bei der Bergung zerstört werden konnten. Schließlich wusste momentan noch niemand mit letzter Gewissheit, ob es sich tatsächlich um einen Freitod handelte, wie es den Anschein hatte, oder ob jemand, der den jungen Mann umgebracht hatte, nur diesen Eindruck erwecken wollte, um den perfekten Mord zu begehen und mit seinem Verbrechen ungestraft davonzukommen. Für empfindlichere Gemüter mochte es befremdlich erscheinen, einen menschlichen Leichnam so lange hängen zu lassen. Bei der Polizeiarbeit war für derartige Sentimentalitäten allerdings kein Raum. Alle, die sich in diesem Moment in unmittelbarer Nähe des Tatorts befanden, konzentrierten sich darauf, ihren Job zu erledigen. Und der bestand in erster Linie darin, anhand der Leiche und eventueller Spuren herauszufinden, was hier geschehen und wie es dazu gekommen war, dass der Junge jetzt am Baum hing. Schließlich konnte ihnen der einzige Tatbeteiligte, der zum gegenwärtigen Zeitpunkt greifbar war, nichts mehr darüber erzählen, weil er das Opfer und darüber hinaus mausetot war. Und falls er sich nicht selbst und aus freiem Willen an diesem einsamen Ort erhängt hatte, mussten sie ermitteln, wer dafür die Verantwortung trug, damit der Täter bestraft wurde, weil er gegen eins der zehn göttlichen Gebote und eine der elementarsten Regeln des menschlichen Zusammenlebens verstoßen hatte: Du sollst nicht töten! Schon ein einziger Fehler bei der Sicherung der Spuren konnte dazu führen, dass der wahre Täter nie ermittelt und gefasst wurde und – möglicherweise angestachelt von seinem Erfolg – erneut zuschlug. Aus diesem Grund arbeiteten die Mitarbeiter der Abteilung Spurensicherung und -auswertung unter der Leitung von Schäringers Kollegen Christian Krautmann lieber etwas langsamer, aber dafür umso sorgfältiger. Und wenn das im Endeffekt bedeutete, dass der Leichnam eine Viertelstunde länger an seinem Strick baumelte, dann musste das eben im Dienst der Wahrheitsfindung in Kauf genommen werden. Schäringer war sich sicher, dass die Seele des Toten dort, wo sie sich jetzt befand, vermutlich am wenigsten Anstoß daran nahm. Sie dürfte sogar viel eher daran interessiert sein, dass ihr Tod aufgeklärt und – falls es sich dann doch um Mord handelte – gesühnt wurde.
Die Mitarbeiter der Spurensicherung mussten ihre Arbeit in der unmittelbaren Umgebung der Leiche abgeschlossen haben, denn sie machten sich nun daran, den Leichnam zu bergen. Einer der Männer, die einen hellgrauen Einmal-Overall mit übergezogener Kapuze und der Rückenaufschrift Polizei trugen, stieg auf eine Aluminium-Leiter, die man neben dem sachte hin und her pendelnden Leichnam aufgerichtet und gegen den dicken Ast gelehnt hatte, um den auch der Strick gebunden war, an dessen unterem Ende der Tote hing. Der Beamte schnitt den Strick an der Oberseite des Astes durch, um die Knoten nicht zu zerstören. Denn falls es sich um Mord handelte und der Mörder die Knoten geknüpft hatte, konnten sie unter Umständen wichtige Hinweise auf seine Person liefern. Zwei Kollegen des Mannes auf der Leiter, die unter dem Leichnam standen, nahmen diesen in Empfang, als er, seines Haltes beraubt, nach unten plumpste, und legten ihn erstaunlich behutsam und rücksichtsvoll auf den Boden.
Schäringer beobachtete, wie der Gerichtsmediziner Dr. Mangold, der ungeduldig am Rand des von der Spurensicherung untersuchten Bereichs darauf gewartet hatte, dass er endlich in Aktion treten konnte, zu dem Toten ging. Er ließ sich neben ihm in die Knie sinken, stellte seine Arzttasche ab und begann mit der ersten Untersuchung.
Schäringer gähnte hinter vorgehaltener Hand, denn er war noch immer etwas müde, nachdem der Anruf des diensthabenden Kollegen vom Kriminaldauerdienst ihn vor seiner üblichen Zeit aus dem Bett geholt hatte. Er sah sich um, um sich ein Bild von der Umgebung zu machen, und drehte sich dabei einmal um die eigene Achse.
Die Stelle, an der sich der Feldweg gabelte, befand sich im Süden der Ortschaft Landsberied, die etwa 20 Kilometer westlich von Fürstenfeldbruck lag. Die Eiche war der einzige größere Baum weit und breit und stand zwischen den beiden Ästen der Weggabelung, die beide nach Süden führten, wo in einem Kilometer Entfernung der Fürstenfelder Wald begann. Der eindrucksvolle Baum war mindestens 20 Meter hoch, und der Stamm besaß einen Durchmesser von ungefähr 5 Metern. Schäringer schätzte daher, dass die Eiche schon an die 400 Jahre alt sein konnte. Unter den ausladenden Ästen des Baums stand eine Holzbank, auf der sich müde Spaziergänger ausruhen konnten. Daneben befand sich ein hölzernes Marterl, wie Wegekreuze in Bayern genannt werden, die meist aufgrund eines Gelübdes aus Dankbarkeit wegen der Rettung aus einer großen Notlage, beispielsweise Krieg, Krankheit oder Seuche, gestiftet und errichtet worden waren. Außer der Eiche, der Bank und dem Marterl gab es hier im Umkreis von mindestens einem Kilometer nichts Augenfälliges, denn rechts und links der Feldwege lagen nur Äcker mit unterschiedlicher Bepflanzung und in verschiedenen Reifestadien.
Die Fahrzeuge all derjenigen, die an diesem Morgen ausschließlich aus beruflichen Gründen den Weg an diesen Ort gefunden hatten, der um diese Zeit ansonsten vermutlich ebenso einsam und verlassen gewesen wäre wie ein Mondkrater, nun aber nahezu überlaufen wirkte, waren allesamt ordentlich auf einer Seite des Feldwegs abgestellt worden, auf dem Schäringer stand und der von Landsberied zur Gabelung führte. Es handelte sich um zwei Streifenwagen, den Kleintransporter der Spurensicherung und einen Leichenwagen des örtlichen Bestatters, in dem der Tote weggebracht werden würde, sobald Dr. Mangold die Untersuchung beendet und die Leiche zum Abtransport freigegeben hatte. Der Fahrer und der Beifahrer standen neben ihrem Fahrzeug, dessen Heckklappe bereits erwartungsvoll offen stand und einen Blick auf den leeren Transportsarg auf der Ladefläche erlaubte, warteten auf ihren Einsatz und unterhielten sich. Einer der Männer rauchte eine Zigarette und trank aus einer Flasche zuckerarme Cola, während der andere sich eine Butterbreze schmecken ließ. Hinter dem Leichenwagen standen vier zivile Fahrzeuge. Schäringer kannte die beiden vorderen, bei denen es sich um den Dienstwagen von Christian Krautmann, dem Leiter der Abteilung Spurensicherung und -verwertung, und das Privatfahrzeug von Dr. Mangold, einen relativ neuen Mercedes SLK 250 Roadster, handelte, und das letzte Fahrzeug, den BMW, mit dem sein Kollege und er wieder einmal als Letzte zum Tatort gekommen waren. Das Fahrzeug unmittelbar vor ihrem Dienstwagen, ein weiterer BMW 316i, kannte er allerdings nicht.
»Wem gehört eigentlich der BMW vor unserem?«, fragte er deshalb seinen Kollegen, Kriminalkommissar Lutz Baum, der neben ihm stand. Baum bekam um diese Tageszeit üblicherweise kaum die Augen auf und hielt sich deshalb, um nicht umzukippen, an einem riesigen Becher Kaffee fest, den er von zu Hause mitgebracht hatte, wo Schäringer ihn vor knapp fünfundzwanzig Minuten persönlich abgeholt hatte, damit er nicht wieder erst dann am Tatort eintrudelte, wenn alle anderen schon einpackten und die Leiche längst in einem Sektionsraum der Gerichtsmedizin lag.
Die beiden Kriminalbeamten der Mordkommission, die nun schon seit 6 Jahren zusammenarbeiteten, waren sehr unterschiedlich, sowohl im Hinblick auf ihre körperliche Erscheinung als auch hinsichtlich ihres Charakters. Schäringer war ein Meter neunzig und sehr schlank, wodurch er noch größer wirkte. Er besaß trotz seiner 57 Lebensjahre noch immer dichtes, aschblondes Haar mit nur wenigen Spuren von Grau. Der 38-jährige Baum war hingegen mittelgroß und wirkte neben seinem Kollegen sogar noch kleiner. Er hatte kurz geschnittenes, lockiges, karottenrotes Haar und neigte aufgrund seiner Vorliebe für reichhaltige Mahlzeiten, Süßigkeiten zwischen den Mahlzeiten und schlechten Automatenkaffee zwischen den Mahlzeiten und den Süßigkeiten und einer damit einhergehenden Abneigung für jegliche Form der körperlichen Ertüchtigung zum Übergewicht, was sich vor allem im Bereich von Bauch und Hüften und in seinem rosigen Gesicht zeigte. Auf dem rechten Handrücken hatte Baum eine drei Zentimeter lange, weiße Narbe, ein Andenken an einen früheren Fall, an den er nur ungern erinnert wurde, als er sich an den Scherben einer zerbrochenen Terrariumtür geschnitten hatte. Von dem Biss der harmlosen Kornnatter, den er sich bei dieser Gelegenheit ebenfalls zugezogen und von dem er geglaubt hatte, er würde ihn sein junges Leben kosten, war hingegen nichts mehr zu sehen. Baum bevorzugte