WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN. Eberhard Weidner

WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN - Eberhard Weidner


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er sie mit seiner eigenen rechten Hand und zog einmal kräftig daran. Natürlich erhoffte er sich nicht, den Körper auf diese Weise aus der Erde ziehen zu können. Das war auch gar nicht seine Absicht. Allerdings gab der Arm, an dem die Hand hing, etwas nach, und ein weiteres Stück des Unterarms kam zum Vorschein. Dadurch gerieten weitere Erdklumpen in Bewegung, blätterten ab und purzelten nach unten.

      Als er genauer hinsah, entdeckte er, dass durch seine Aktion nicht nur ein weiterer Teil des weißen, mit kreisrunden Brandmalen bedeckten Unterarms sichtbar geworden war, sondern auch ein Armband aus silbernen Kettengliedern, an denen mehrere Anhänger hingen.

      Seine Hand zuckte zurück, als hätte er sich an einer heißen Herdplatte verbrannt. Er gab einen kurzen, teilweise unterdrückten Laut von sich, eine Mischung aus Stöhnen, Aufheulen und Schluchzen, und starrte gebannt auf das Armband. Auch ohne genauer hinzusehen oder die Anhänger zu zählen und zu untersuchen, wusste er, dass es sich um ein silbernes Bettelarmband handelte, an dem sieben kleine Symbole hingen. Es handelte sich um ein Kreuz, ein Herz, ein Kleeblatt, einen Schlüssel, einen Pilz, einen Engel und einen kleinen Eiffelturm. Symbole, Erinnerungen und Stationen eines Lebens, das nun unweigerlich beendet war.

      Sein Blick verschleierte sich, als ihm Tränen in die Augen schossen. Doch das Bild des zierlichen, leichenblassen Handgelenks mit dem im Mondlicht glänzenden Armband hatte sich ohnehin längst unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt. Er schluchzte leise, während ihm die Tränen übers Gesicht liefen und sich dort mit dem Schweiß vermischten.

      Er hob beide Arme, die Hände zu Fäusten geballt, und legte den Kopf in den Nacken. Mit tränenverschleiertem Blick starrte er zum Mond empor, der die Szene, die ein paar seiner Strahlen aus der Finsternis rissen, im Schutz des Astwerks schweigend beobachtete. Das leise Schluchzen verstummte, als er tief Luft holte, den Mund ganz weit aufriss und einen gellenden Schrei von sich gab, der wie das Heulen eines Wolfs klang und weithin hörbar durch die nächtliche Stille hallte. Ein paar Hunde in der Nähe wurden davon aufgeschreckt und erwiderten das Heulen, als wollten sie einen neuen Artgenossen in ihrer Mitte begrüßen …

      3

      Er beobachtete fasziniert die tanzenden Flammenzungen, die an der Fensterscheibe des Gebäudes vor ihm emporleckten, wieder in sich zusammensanken, als wollten sie neuen Anlauf nehmen, und schon im nächsten Augenblick noch höher und zahlreicher emporloderten. Durch das geschlossene Fenster war ihr Knistern und Knacken, mit dem das Feuer alles verzehrte, was in Reichweite war, um sich davon zu nähren und noch weiter zu wachsen, nur gedämpft zu hören. In seinen Ohren klang es allerdings beinahe so, als flüsterten die Flammen ihm etwas zu. Er legte den Kopf schief, konnte aber immer noch nicht verstehen, was sie ihm sagen wollten.

      Trotz der Faszination, die das muntere Spiel der Flammenzungen in ihm auslöste, spürte er dennoch auch die Gefahr, die von ihnen ausging. Instinktiv wich er auf dem gepflasterten Innenhof mehrere Schritte zurück. Er sah zu den anderen Fenstern, von denen es ziemlich viele gab. Hinter den meisten in der unteren Reihe loderte bereits das Feuer. Hinter anderen war nur ein orangerotes Leuchten zu sehen. Die oberen Fenster waren hingegen noch dunkel.

      In diesem Moment zersprang mit einem lauten Knall die Scheibe, durch die er die ersten Flammenzungen beobachtet hatte. Die enorme Hitze, die sich im Inneren des Gebäudes allmählich entwickelte, hatte das Glas bersten lassen. Frische Nachtluft wurde durch die Öffnung ins Innere gesaugt und fachte das Feuer noch mehr an. Nun loderten die Flammen durch das Loch im Fenster nach außen und nagten am Holz des Fensterrahmens. Das leise Knistern und Knacken, das ihm anfangs noch wie geflüsterte Worte erschienen war, war längst zu einem Brausen geworden, das mit jeder Sekunde weiter anschwoll, als türme sich hinter dem Haus eine tödliche Wasserwoge auf, die jeden Moment brechen und alles unter sich begraben und verschlingen würde.

      Er wich noch weiter zurück, bis er neben einer Reihe von Garagen stand. Das Pflaster endete an dieser Stelle und wurde von ungemähtem Gras ersetzt, durch das sich ein Trampelpfad schlängelte. Hinter ihm waren Bäume und Büsche, doch er hatte nur Augen für das, was vor ihm geschah. Er knurrte voller Furcht, denn er verstand nicht, was in dem Haus geschah und was das alles zu bedeuten hatte. Am Anfang war das Spiel der Flammenzungen noch lustig gewesen, aber nun machte es ihm keinen Spaß mehr, sondern nur noch Angst, denn das Feuer wuchs mit jeder Sekunde und wurde zu einem riesigen, gefräßigen Ungetüm, das alles verschlingen würde, was in seiner Reichweite war.

      Er wandte den Kopf, als in der Ferne ein jaulender, auf- und abschwellender Laut zu hören war, der allmählich immer lauter wurde, weil die Lärmquelle rasch näher kam. Er kannte dieses Geräusch. Er hatte es schon oft gehört und sofort die dazu passenden Bilder der Fahrzeuge vor Augen, die diese Töne von sich gaben, während sie durch die Straßen sausten.

      Er ließ sich davon allerdings nur kurz ablenken und richtete sein Augenmerk und seine Aufmerksamkeit sofort wieder auf das brennende Haus vor ihm, als könnten die Flammen seine Abgelenktheit ansonsten ausnutzen und ihn anspringen, wenn er sie nicht scharf im Auge behielt.

      Trotz all ihrer Gefährlichkeit, ihrer Unberechenbarkeit und ihrer Gier hatten die Flammen gleichzeitig auch etwas zutiefst Faszinierendes an sich. Und so verfolgte er wie hypnotisiert ihren tödlichen Tanz. Aus diesem Grund war er blind und taub für alles andere, was um ihn herum geschah, und spürte nicht die Gefahr, die gar nicht vom Feuer ausging, sondern sich ihm in diesem Augenblick aus einer ganz anderen, unerwarteten Richtung näherte.

      Erst in dem Moment, als ihn eine kräftige Hand im Genick packte und hochhob, wurde er sich der Person bewusst, die sich von hinten an ihn herangeschlichen hatte. Doch da war es längst zu spät und aussichtslos, zu reagieren.

      Die große, kräftige Gestalt legte die andere Hand um seinen Unterkiefer und riss seinen Kopf so heftig und abrupt zur Seite, dass die Wirbel in seinem Hals knirschend brachen.

      Er kam nicht einmal dazu, einen einzigen Laut von sich zu geben, ehe er starb …

      KAPITEL 1

      1

      Ein kühler, frühmorgendlicher Windstoß rüttelte an den Ästen der großen Eiche und ließ ihre Blätter rascheln, als wisperten sie einander Geheimnisse zu. Doch sosehr Kriminalhauptkommissar Franz Schäringer sich auch darauf konzentrierte, so hoffte er dennoch vergeblich darauf, sie würden ihm verraten, was letzte Nacht an diesem Ort geschehen war.

      Nach Schäringers langjähriger Erfahrung als Kriminalbeamter der Mordkommission wurden Leichen sehr oft am frühen Morgen gefunden. Die Leute standen nichtsahnend auf, frühstückten – noch immer ohne das Bewusstsein, dass ihnen alsbald der Tag und möglicherweise sogar die ganze Woche versaut werden würde –, und kamen dann auf dem Weg zur Arbeit oder zu einer anderen Beschäftigung an einen Ort, wo sie ganz unvermittelt über einen Leichnam stolperten, der am Abend zuvor noch nicht dort gewesen war. Entweder hatte sich der oder die Verstorbene vor seinem oder ihrem Ableben selbst freiwillig oder unfreiwillig dorthin begeben. Oder er oder sie war von seinem oder ihrem Mörder vor oder nach der Tat aus irgendwelchen Gründen an diesen Ort gebracht worden. Schäringers Aufgabe war es dann zunächst einmal, mithilfe der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin herauszufinden, welche der vorgenannten Alternativen zutraf, um dann für den Fall, dass es sich tatsächlich um ein Tötungsdelikt handelte, im zweiten Schritt den oder die Täter zu ermitteln. Das klang in der Theorie relativ einfach, war es in der Praxis allerdings nur selten.

      Der Tote, auf den der Ermittler der Kripo Fürstenfeldbruck in diesem Moment starrte, bestätigte in dieser Hinsicht seine Erfahrungswerte. Er war am frühen Morgen dieses Tages unmittelbar nach Sonnenaufgang von einem Bauern gefunden worden. Dieser war mit seinem Traktor vorbeigekommen und hatte sich verwundert gefragt, warum jemand eine Vogelscheuche an einen Ast der eindrucksvollen, riesigen Eiche gehängt hatte, die hier schon seit Jahrhunderten stand und die Gabelung des Feldwegs markierte. Nachdem der schon recht betagte Landwirt von seinem Fahrzeug gestiegen war und festgestellt hatte, dass es sich gar nicht um eine Vogelscheuche, sondern um einen toten jungen Mann handelte, hatte er zunächst sein reichhaltiges Frühstück, das zum überwiegenden Teil aus eigenen Erzeugnissen


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