Vampyr. David Goliath
bereits den Eingangstresen und dessen Schubladen. Dafür eignete sich die Taschenlampe hervorragend.
»Unter meinem Helm.« Die Anstrengung der Ausscheidung schwang mit. Geräusche echoten. Offenbar rächte sich der hohe Zuckerkonsum.
Voss hob die Pickelhaube am Augenschirm hoch. Der Polizeistern vorn reflektierte das ausgesendete Licht der Taschenlampe. Darunter eröffnete sich ein wahrer Goldschatz.
»Die Hälfte?«, brüllte Voss nach hinten. Er teilte den Berg an Schokoladentaler gleichmäßig in zwei Hügel.
»Meinetwegen«, meckerte Schumann genervt, wegen der Kombination aus eigener Darmtätigkeit und fremder Schnorrerei.
Als Voss mit seiner Beute wieder nach oben schlendern wollte, stürmte ein Junge von vielleicht zehn Lenze herein. Er schnaufte erschöpft. Seine Augen huschten wild umher.
»Sie müssen helfen!«, rief der Junge und zeigte nach draußen. »Da brennt jemand!«
Perplex schüttelte Voss den Kopf. Er dachte gehört zu haben, dass da jemand brannte. »Wie bitte?«
Das Straßenkind trug alte, zerrissene Klamotten über dem ungewaschenen Leib. Eingefallene Wangen und ausgehöhlte Augen zeugten von Mangelernährung.
»Schnell!« Der Junge schnappte des Kommissars Hand und zog ihn zur Tür.
Die Taler prasselten zu Boden. Im Gehen stibitzte Voss sich mit der Taschenlampenhand Schumanns Dienstjacke vom Haken, denn draußen war es kalt.
Der Junge rannte voraus. Die Laternen beleuchteten alle paar Meter Asphaltdecke und Gehweg. Fahrzeuge parkten am Bordstein. Feste Bedachung löste allmählich das Stoffverdeck der Karossen ab. In fast allen Häusern dominierte Dunkelheit – Schlafenszeit. Einige wenige Mietshäuser ragten mehrstöckig zum Himmel. Die in diesem marginalen Stadtteil überwiegenden Gewerbe- und Industriegebäude bevorzugten eher breitgefächerte Bodennähe statt die Nähe zu Gott. Der Himmel war klar. Man konnte die Sterne sehen, weil die Betriebe und deren Schlote stillstanden und innehielten.
Voss’ Atem formte Wölkchen, durch die er hindurchrannte. Trotz der vielen Schokolade war er gut in Form, weil er manchmal wie ein Fanatiker dem Bewegungsdrang frönte – am Boxsack im Keller des Reviers. Nach ein paar Biegungen dachte er an seine Pistole, die im Holster auf dem Schreibtisch lag. Der Junge könnte ihn direkt in einen Hinterhalt locken – Erinnerungen an den Bankraub, den er nicht vereiteln konnte, wurden wach. Mehr als eine schlagbereite Taschenlampe hatte er nicht dabei. Als der Feuerschein an der nächsten Ecke die Nacht erhellte, verwarf er alle Flucht- und Selbstverteidigungsgedanken.
Vor ihm lag eine Frau mitten auf der Straße und fackelte vom Oberkörper aufwärts. Geistesgegenwärtig entledigte er sich Schumanns Polizeijacke, warf diese auf die Frau und klopfte mit den Händen das Feuer aus. Flammen attackierten ihn, versuchten durch die Baumwollschicht der Jacke zu schlagen. Er wollte die Frau ungern treten, weshalb er die Hände benutzte, um den Brand auszuklopfen. Nach schier unendlichen Sekunden dampften Frau und Jacke nur noch. Voss bezeichnete sich zwar nicht als Doktor, aber den Tod der erstarrten Frau konnte er zweifelsohne feststellen. Ihr Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Jäckchen und obere Hälfte des Kleides waren mit ihrer Brust verschmolzen. Ihre Arme hatten sich unnatürlich gekrümmt. Die Finger hatten sich zusammengezogen und maßen nur noch ein Drittel ihrer ursprünglichen Größe. Es stank nach verbranntem Fleisch. Und Benzin.
Voss erhob sich. Der Junge war weg. Erst jetzt spürte er den Schmerz, der von seinen Handinnenflächen ausging. Er drehte die Hände, um den Grund zu erfahren – Brandblasen. Kalte Blitze bohrten sich unablässig in seine Haut. Sie wechselten sich ab mit stechenden Wellen, die ihm bis in den Schädel zogen. Die niedrige Außentemperatur gab ihm den Rest. Er begann zu zittern.
Der Knabe hatte ihn in eine ruhige Seitenstraße geführt, die von den hohen Mauern zweier Betriebsgelände eingepfercht wurde. Leuchtende Laternen gab es lediglich zu Beginn und am Ende der Straße. Mittendrin labte sich die Dunkelheit am Sparzwang der Stadt. Ein idealer Tatort.
Seine Augen mussten sich erst noch an die Lichtarmut gewöhnen. Das helle Feuer hatte ihn vorübergehend geblendet. Mit der Zeit erkannte er genauere Strukturen. Ein Fahrzeug war gegen eine Litfaßsäule gekracht. Frontal. Der Motorraum glich einem zusammengedrückten Akkordeon. Die Fahrertür stand offen, genau in der Flucht der Toten. Er suchte die Taschenlampe, die irgendwo auf der Straße liegen musste. Nach ein paar unbeholfenen Tastversuchen fand er sie und nutzte den mobilen Scheinwerfer für eine genauere Erkundung. Das Gestell in seiner Hand drückte zwar auf die Brandblasen, aber er biss die Zähne zusammen.
Die Frau war verbrannt. Neben ihr entdeckte er eine halbgerauchte Zigarette. Wenn er die Taschenlampe abwendete, konnte er ein leichtes Tabakglimmen in der Papierrolle sehen, das sich noch gegen die Dunkelheit behaupten konnte. Das Auto war Schrott. Sie schien zu Beginn Glück gehabt zu haben, dass sie der Aufprall nicht umbrachte. Der Fahrerraum war noch gut intakt. Er prüfte die Sitzflächen. Einzig auf dem Fahrersitz konnte er einen langsam zurückweichenden Abdruck sichten. Die Frau musste allein unterwegs gewesen sein. Als er tiefer in das Fahrzeug hineinschaute, bohrte sich Benzingeruch in seine Nase. Er nickte sich zu, als ob er eine Liste abarbeitete. Der Kofferraum war leer. Wie erwartet. Zwischen Fahrzeug und Frau erspähte er kleinere Flecken. Wahrscheinlich Benzin. Von der Straße zur Litfaßsäule konnte er Bremsspuren ausmachen.
Der Kriminalkommissar verknüpfte das Gesehene und stellte das Geschehene nach: die Frau verliert die Kontrolle, prallt gegen den Werbepfeiler, schleppt sich aus dem Wrack, zündet auf den Schreck eine Zigarette an, obwohl sie mit Benzin besprenkelt ist, und verbrennt.
Um sicher zu gehen, leuchtete er das Umfeld noch einmal ab. In Wurfweite zur Zigarette fand er ein benutztes Streichholz. Woran hat sie es entzündet? Er suchte weiter, bis er auch die dazugehörige Schachtel entdeckte. Zu leicht. Er klopfte sich gedanklich auf die Schulter.
Danach machte er sich daran, die Frau in der Hocke zu inspizieren. Vorsichtig entfernte er Schumanns verkohlte Jacke von ihr. Mit der Taschenlampe stocherte er in den ausdampfenden Überresten ihres Jäckchens herum. Die Innentaschen, soweit noch funktionstüchtig, beherbergten keinerlei Ausweisdokumente, auch nicht versengt. Unter dem halbverschmorten Kleid wollte er nicht stöbern. Das überließ er dem Arzt.
Voss erhob sich. Mit der Taschenlampe leuchtete er die Straße auf und ab. Absolut niemand verlor sich um diese Uhrzeit in diese Straße, die tagsüber hauptsächlich dem Lieferverkehr diente. Bis auf den Jungen gab es keine Zeugen. Der Junge! Er schnalzte mit der Zunge. Selbst bei einer Gegenüberstellung würde er den Knaben nicht eindeutig identifizieren können.
Eine vierköpfige Fußpatrouille der Schupo kam auf ihn zu. Deren Taschenlampen versperrten ihm zwar die Sicht, aber das Ausbleiben der Trillerpfeifentöne und das Kichern der Kollegen sagten ihm, dass sie ihn erkannt hatten.
»Voss, du Sesselfurzer, was hast du angestellt?«, fragte einer amüsiert. Als er das Opfer sah, blieb ihm das Lachen im Halse stecken. Ein Kanon aus Raunen folgte. Wurden zuvor noch die Schlagstöcke heiter geschwungen, packten die Kameraden den Meinungsverstärker aus Pietätsgründen weg.
»Sichern Sie die Unfallstelle«, sagte Voss sachlich. »Ich laufe zum Revier und schicke ihnen Unterstützung. Die Frau ist tot.«
Mit dem Versuch das Nummernschild des Fahrzeuges im Kopf zu behalten, trat er den Rückweg zum Revier an. Die Unfallaufnahme und die Beseitigung der Trümmer waren Aufgaben der Schupo. Kälte, Brandblasen und der Gestank von verbranntem Mensch machten ihm zu schaffen. Außerdem musste er Schumann erklären, warum dessen Jacke nicht mehr am Haken hing.
Zurück auf dem Revier erwartete Voss der bullige Bulle. Die Goldtaler auf dem Boden waren eingesammelt und wahrscheinlich wieder unter der Pickelhaube versteckt. Ehe Schumann zu einem Satz ansetzen konnte, hob Voss die Hand.
»Warte! Bevor du etwas sagst, gib mir Zettel und Stift!« Er schloss die Augen, damit er die Blechplatte vor Augen sehen konnte, nahm die geforderten Utensilien mit zugekniffenen Lidern und schrieb auf den Tresen gestützt nieder, was er dachte, gesehen zu haben. Oben zwei Buchstaben, darunter eine Reihe Ziffern.
»So, jetzt«, gab er anschließend