Vampyr. David Goliath
schmollte Voss, während seine Hände schmerzten und er nach Ruß und Benzin stank.
Schumanns Hosenträger spannten um den Bauch. Jeden Moment konnten sie reißen und jemanden verletzen. Ohne die Jacke mit der vertikalen, silbernen Knopfreihe und den silbernen Schulterabzeichen, ähnelte er einem Fabrikarbeiter, mit dem Unterschied, dass Schumanns Hemd noch sauber war.
Voss schob den Zettel zu ihm. »Kannst du in der Kartei nachschauen?«
Der korpulente Kerl schüttelte den Kopf. Nicht weil er die Bitte ausschlug, sondern weil er wissen wollte, was Voss wieder angestellt hatte. »Was ist passiert?«
»Ein Unfall«, nickte er zur Tür hinaus. »Eine Frau ist gegen einen Werbepfosten geknallt und verbrannt.«
Schumann machte große Augen. »In ihrem Auto verbrannt?«
»Auf der Straße. Das Auto ist nur zusammengestaucht. Deine Kollegen sichern schon die Unfallstelle.« Voss schaute sich im Revier um. »Sind die anderen Trupps schon wieder zurück?«
Schumann verneinte.
»Dann ist es deine Aufgabe, alles in die Wege zu leiten«, er gestikulierte zum Telefon, »Du weißt schon, die ganze Benachrichtigungskette.« Dann zeigte er nach draußen. »Und das Absperrmaterial hinschaffen.«
Voss sah sich einem mürrischen Gesicht gegenüber.
»Vergiss das Nummernschild nicht«, tippte er auf den Zettel, der noch auf dem Tresen lag.
Schumann deutete mit dem Daumen der Faust in das hinter dem Tresen befindliche Karteiarchiv. »Das kannst du machen, wenn du schon hier bist.« Er nahm den Hörer von der Gabel und ließ die Ziffernwahlscheibe rotieren. »Ich habe zu tun!«
Nachdem Voss den letztgenannten Halter des Fahrzeuges ermittelt, Jacke und Filzhut von oben geholt und sich den gefüllten Pistolengurt um den Oberschenkel geschnallt hatte, fuhr er in die Innenstadt – raus aus seinem Zuständigkeitsbereich. Die Fahrzeuge der Kripo waren ausgemusterte Streifenwagen der Schupo, entsprechend abgegriffen präsentierten sich die Teile, die durch viele Hände gegangen waren: Lenkrad, Schaltknauf, Türgriff. Die verkalkte Scheibe erschwerte ihm die Sicht. Zum Glück regnete es nicht, sonst hätten ihm Straßenlaternen und der wenige Gegenverkehr die Sicht geraubt. Die spröden Dichtungen der Karosserie baten die kühle Außenluft herein, weshalb er mit den Zähnen klapperte.
Er behielt es für sich, weil er kein Fass aufreißen wollte, aber einen Mord konnte er nicht ausschließen. Hätte er aus dem Unfallort einen Tatort gemacht, hätte er einige Leute aus dem Bett schmeißen müssen, wäre stundenlang vor Ort geblieben und am nächsten Morgen nur kurz heimgefahren, um Anubis zu füttern. Mit dem Tagschichtler hätte er dann zusammenarbeiten müssen. Nur dass dieser ausgeruht gewesen wäre, während Voss die Nacht, Kälte und Verbrennungen hinter sich gehabt hätte. Zudem hätte er einen ellenlangen Bericht schreiben müssen, der durch unzählige Instanzen gewandert wäre, die alle Revisionen verlangt hätten. Schon der Gedanke an den Haufen Arbeit fröstelte ihn. Zusätzlich zur einstelligen Grad-Celsius-Zahl und den pulsierend pochenden Brandblasen an seinen Händen, die Lenkrad und Schaltknauf bedienen mussten.
Vorm Nachtklub Zum Mond stellte er den Wagen halb auf dem Bordstein ab. Trotz der Uhrzeit torkelte die umfangreiche Laufkundschaft fröhlich umher und störte sich nicht an der Einengung des Gehweges. Ein paar besonders lockere, frohlockende Gesellen klopften im Vorbeigehen auf die Motorhaube und grüßten den Zivilpolizisten. Als Voss ausstieg wollte der Nachtklubportier mit Frack und Zylinder schon die Stimme erheben, doch Voss zeigte auf die sieben weißen Letter an der Seitentür des Wagens: POLIZEI. Ohne weitere Worte betrat Voss den Klub. Er musste nicht einmal seinen Dienstausweis vorzeigen, so eingeschüchtert ließ der Portier ihn gewähren. Möglicherweise trug die Waffe am Bein ihren Teil dazu bei.
Das Etablissement wartete mit sanfter Musik, weiblicher Bedienung und viel Zigarettenqualm auf. Das zart gespielte Saxophon wurde von einer rhythmischen Trommel begleitet, deren Stöcke gefühlvoll über das Fell gezogen wurden. Ein Kontrabass lieferte die tiefen Frequenzen, die das Publikum in einen entspannten Modus versetzten. An den dutzenden, runden Tischen saßen Herren von der gehobenen Mittelschicht aufwärts. Von Schweiß und Erregung glänzende Glatzen versuchten sich zu übertrumpfen. Es wurde sich in Rage geschwatzt, ergänzt durch dröhnendes Gelächter. Aufreizende Damen mit federbesetzten Kleidchen drapierten sich an den generösen Gentlemen.
Voss betrachtete die gelassene Stimmung. Rauchschwaden hüllten die Gäste ein und sammelten sich unter der Decke. Er nahm den grauen Filzhut ab. Dann suchte er sich einen freien Tisch am äußersten Rand. Da er keinen fand, holte er seinen Dienstausweis hervor und vertrieb ein ausgelassen herumknutschendes Pärchen mit enormem Altersunterschied in einer düsteren Nische von den Stühlen. Mehr Angst hatte das Pärchen vor der offengetragenen Pistole.
Einen Augenblick nachdem sich Voss hingesetzt hatte, trat eine Bedienung an ihn heran, die ihn stark an seine geflohene Frau erinnerte. Sie hatte helle, lockige Haare, X-Beine und eine allgemein instabile Haltung, als würde sie jeden Moment zusammenklappen – wie eine Marionette, deren Puppenspieler die Zügel lockerte. Sie starrte ihn fragend an.
»Limonade und den Chef, bitte«, bestellte Voss. Auch ihr hielt er seinen Dienstausweis vor die Nase.
Ungerührt von der Autorität legte sie den Kopf schief und zog die eine Hälfte der Oberlippe nach oben, um zu signalisieren, dass sie nur eine Bestellung aufnehmen und nicht in eine polizeiliche Ermittlung geraten wollte. Etwas passte ihr nicht. Dieselbe Mimik wie bei seiner Frau, wenn sie genervt war. Die, zugegeben, hübsche Kellnerin konnte nichts dafür, aber Voss mochte sie jetzt schon nicht.
»Kirsch oder Apfel?«, hakte sie lustlos nach.
Ihre piepsende Stimme sägte in Voss’ Ohren. »Habt ihr keine Zitrone?«
»Kirsch oder Apfel?«, wiederholte die junge Frau.
»Schon gut«, bedeutete er ihr, Hauptsache sie hörte auf zu sprechen. »Kirsche. Und den Chef!«
»Was wollen Sie von ihm?«
Wieder sägten die Silben an seinem Trommelfell. Er hatte Mühe, zu verbergen, dass sich alles in ihm kräuselte, sobald sie den Mund aufmachte. Er holte seinen Dienstausweis erneut aus der Jackentasche. »Mich beschweren, dass es keine Zitronenlimonade gibt. Das Selbstverständlichste überhaupt!«, murmelte er angefressen.
»Wie bitte?« Die Kellnerin beugte sich etwas vor. Ihr Dekolletee lachte Voss an. Das hatte er nicht beabsichtigt, musste aber dennoch einen Blick riskieren.
»Ich will ihm nur eine Frage stellen. Er muss sich keine Sorgen machen.« Mit einer Handbewegung schickte er sie weg. Auch ihr Hintern sah in dem Kleid ansprechend aus. Trotzdem war sie nicht sein Fall, aufgrund diverser Vorkommnisse.
Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte sich Peter Plogojowitz mit einer Flasche Kirschlimonade an Voss’ Tisch. Der Inhaber des Nachtklubs Zum Mond war schmächtig und hochgewachsen. Seine schlaksigen Gliedmaßen machten bisweilen den Eindruck, sie gehorchten ihm nicht. Er hatte keine Haare auf dem Kopf. Sein Gesicht wirkte eingefallen.
»Mir wurde zugetragen, dass ein Polizist nach mir schickt.« Er reichte die offene Flasche. Dabei musterte er den Beamten, für einen Moment an der Pistole verharrend. »Sind Sie neu auf dem Revier? Ich kenne Sie nicht.«
Zuerst musste Voss einen Schluck trinken. Seine Kehle war ausgetrocknet, unter anderem vom beißenden Nikotinnebel. Die gekühlte Flasche tat gut auf der blasenüberzogenen Haut der Handinnenfläche. »Kriminalkommissar Gideon Voss vom Neunten.«
Die steife Haltung von Plogojowitz löste sich. »Dann sind Sie gar nicht zuständig für diesen Stadtteil«, kombinierte er lächelnd.
»Ich habe nur eine Frage an Sie.«
»Muss ich diese Frage beantworten?«, grätschte der schmächtige Mann dazwischen. Er schaute sich um. »Sind Sie allein hier? Ist das ein offizieller Besuch?«
Voss hatte keine Lust auf Spielchen. »Es gab einen Unfall mit Ihrem Fahrzeug«, beendete er das Scharmützel.
Plogojowitz