Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes. Bettina Reiter

Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes - Bettina Reiter


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doch kein Mensch“, ging sie vollends in die Offensive und schmetterte ihre Autotür zu. Dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss.

      „Nicht einmal Zentralverriegelung hat Ihre Karre“, vernahm Annie ihren Gegner. „Aus welchem Jahrhundert stammt der Wagen denn?“

      Sie wandte sich halb um, während sie gleichzeitig am Schlüssel nestelte. Das verdammte Ding klemmte! „Leider aus einem, wofür sich eine Versicherung ohnehin nicht mehr lohnt. Ganz so naiv wie Sie denken bin ich also nicht. Deswegen ist mir klar, dass wir ein fettes Problem haben.“

      „Wir?“, platzte er nun vollends. „Sie haben ein fettes Problem und wollen sich bloß drücken. Nebenbei scheinen Sie den Ernst der Lage noch nicht begriffen zu haben. Also wenn ich es nicht eilig hätte, würde ich am liebsten die Polizei rufen. Aber um dem Ganzen ein Ende zu bereiten: Geben Sie mir Ihre Visitenkarte, damit ich weiß, an wen ich die Rechnung schicken muss.“

      Annie wurde panisch und zerrte regelrecht am Schlüssel. „Auch Visitenkarten übersteigen mein Budget und ich will gar nicht wissen, wie viel meine Autotür kostet. Die ist völlig hinüber!“ Jetzt hieß es kämpfen, ansonsten konnte sie Privatinsolvenz anmelden.

      „Ihr Auto sieht überall so aus“, verschaffte er sich weiter Luft. „Verdammt noch mal, könnten Sie sich gefälligst zu mir umdrehen, wenn ich mit Ihnen spreche? Oder ist Ihre Auffassung von Höflichkeit genauso überholt wie dieses Vehikel?“

      Mit einem genervten Ausruf ließ Annie vom Schlüssel ab und drehte sich zu ihm um. Erneut stieg ihr sein Aftershave in die Nase. „Ausgerechnet Sie reden von Höflichkeit? Spielen sich auf wie ein Millionär, der glaubt, mit dem Fußvolk kann man es ja machen.“

      „Ich bin Millionär“, stellte er mit Arroganz in der Miene fest und kniff die Augen zusammen. „Wie heißen Sie eigentlich, Miss …“ Er beugte sich etwas näher. Himmel, diese Augen … aber sie konnte er damit nicht beeindrucken. Sie nicht!

      „Miss Butler“, log Annie.

      „Und Ihr Vorname?“

      Freiwillig würde sie ihren Namen bestimmt nicht herausrücken! „Vom Winde verweht. Meine Eltern haben eine Schwäche für alte Filme.“ Annie schulterte ihre Tasche und warf einen schnellen Blick auf die Armbanduhr ihres Großvaters, die sie seit seinem Tod trug. Ungeachtet dessen, dass es eine Herrenruhr war. Doch sie lief wie ein Rädchen und zeigte ihr, dass sie in fünf Minuten ihren Dienst antreten musste. Pünktlich. Harry war auch in dieser Beziehung unerbittlich.

      „Vom Winde verweht also“, wiederholte der Unbekannte etwas ruhiger und plötzlich lag ein Schmunzeln um seinen Mund. „Sie sind nicht schlecht. Der Punkt geht an Sie.“ Wenigstens hatte er Sinn für Humor. Einen schlichten, aber immerhin. „Nun, wie wollen wir das jetzt handhaben?“ Kurz lächelte er, was ihn beinahe sympathisch machte.

      „Ich weiß es nicht“, antwortete Annie wahrheitsgemäß und zuckte mit den Schultern. Plötzlich schien die dicke Luft entwichen zu sein. Auf beiden Seiten.

      „Das darf doch nicht wahr sein! Annie, was hast du schon wieder angestellt?“

      Wie von der Tarantel gestochen wirbelte sie herum. Mit hochrotem Gesicht walzte Harry auf sie zu. Dabei verrutschte ihm die Hornbrille. Wie eh war er gekleidet wie ein Buchhalter aus früheren Tagen. Nadelstreifhose, weißes Hemd, Hosenträger und Ärmelhalter.

      „Ich kann alles erklären“, stammelte Annie, obwohl sie sich keinen Reim darauf machen konnte, weshalb er so aufgebracht war. „Ähm, was genau …“

      „Erspar mir die faulen Ausreden“, fuhr Harry ihr über den Mund, als er vor ihr stand. Dabei schnappte er nach Luft und stemmte die Hände in die breiten Hüften. „Ich habe alles von meinem Büro aus gesehen. Du hast Mister Flatleys Limousine beschädigt.“

      „Das haben die Dame und ich bereits besprochen.“ Der Mann schaute Annie kurz an. „Wir müssen lediglich die Formalitäten klären.“

      „Womit wir schon zwei wären“, stieß Harry in dieselbe Kerbe. „In fünf Minuten bei mir im Büro, Annie. Dann kannst du deine Papiere abholen. Den ausstehenden Lohn überweise ich dir selbstverständlich. Ich bin ja kein Unmensch.“

      „Soll das heißen, dass du mich … feuerst?“ Annie hatte das Gefühl, als würde sich der Boden unter ihr wie ein breiter schwarzer Schlund öffnen.

      „Richtig, und zwar hochkant. Mister Flatley ist nicht irgendwer und ein Verhalten wie dieses dulde ich nicht unter meinen Angestellten. Man hat dein Keifen bis in die Lobby gehört.“

      „Ist ein Rauswurf nicht etwas übertrieben?“, sprang ausgerechnet Flatley für Annie in die Bresche, die ihn überrascht anschaute. Er indes konzentrierte sich voll und ganz auf Harry. „Die Sache ist kaum der Rede wert und ich war bestimmt nicht leiser als die junge Dame.“

      „Aber Sie arbeiten im Gegensatz zu Annie nicht für mich“, wurde er von Harry belehrt. „Es bleibt bei der Kündigung. Außerdem muss ich ohnehin Personal einsparen und …“

      „… da kommt dir das ganz gelegen, nicht wahr?“, unterbrach Annie ihn.

      „Ich bin nicht bei der Wohlfahrt und muss selbst zusehen, wo ich bleibe. Also, Rapport in fünf Minuten“, wiederholte Harry und zog ab.

      Ungläubig starrte Annie ihm nach und fühlte sich wie gelähmt. Dann zerrte sie neuerlich am Schlüssel. Zum Teufel mit den Papieren! Sie wollte einfach nur weg. Sollte Harry ihr den ganzen Kram schicken, da sie keine zehn Pferde in sein Büro bringen würden. Dieser Arsch hatte mit Sicherheit vor, ihre Situation bis zur letzten Sekunde auszukosten, um sich wieder einmal zu profilieren. Nein, erniedrigen lassen musste sie sich nicht. Das hatte er ohnehin schon genug getan!

      „Sie finden sicher etwas Neues“, vernahm sie Flatley.

      Annie warf ihm einen wütenden Blick zu. „Ersparen Sie mir diese dummen Floskeln!“

      „Schon gut. Dann finden Sie eben nichts Neues.“

      Sie kämpfte gegen die Tränen an. „Nur Ihretwegen bin ich in dieser beschissenen Lage! Vielen Dank auch.“ Es war ungerecht, das war ihr bewusst, aber sie konnte nicht anders. Weil dieser Mann alles zu haben schien, sie hingegen weniger als nichts. Diese Welt war einfach nicht gerecht. Außerdem hatte der Streit mit Flatley den Stein ins Rollen gebracht, den Harry ihr nun rücksichtslos an den Kopf geworfen hatte. Obwohl ihr klar war, dass ihr ehemaliger Chef nur auf einen passenden Moment gewartet hatte. Für so einen Mann wollte sie ohnehin nicht mehr arbeiten, obwohl der Lohn an allen Ecken und Enden fehlen würde. Zahlte sie die Raten nicht pünktlich, käme das Geschäft des Großvaters unter den Hammer. Allein der Gedanke daran trieb ihr neuerlich Tränen in die Augen. „Dieser verdammte Schlüssel!“, schimpfte sie mit weinerlicher Stimme. Zuerst ließ er sich nicht umdrehen, jetzt nicht mehr herausziehen.

      „So wird das nichts“, stellte Flatley fest und berührte sie sanft am Arm. „Lassen Sie mich das machen.“ Annie zögerte, bevor sie einen Schritt zur Seite trat. Kurz darauf hatte er den Schlüssel herausgezogen und gab ihn ihr. Dabei berührten sich ihre Hände. „Ich bin übrigens Jack Flatley und den Schaden lasse ich auf meine Kosten regulieren.“

      „Das … das ist sehr nett, Mister Flatley“, stotterte Annie völlig überrumpelt von seinem Entgegenkommen.

      „Kein Problem. Ich spende dauernd an Bedürftige und kann die Summe abschreiben.“

      Bedürftige? So wirkte sie also auf ihn? Ob er irgendeine Ahnung hatte, wie beschämend das für sie war? „Um ehrlich zu sein“, begann Annie mit frostiger Stimme, „hätte ich nicht gewusst, wie ich den Schaden bezahlen soll. Insofern bin ich Ihnen sehr dankbar, auch wenn ich nicht danach aussehe. Trotz allem habe ich meinen Stolz und arbeite hart, um mein Leben zu bestreiten. Davon haben Menschen wie Sie jedoch keine Ahnung, die Spende und steuerlich absetzen in einem Atemzug nennen. Und wenn ich mir einen kleinen Rat erlauben darf: Stecken Sie nicht jeden in eine Schublade, egal, welches Auto er fährt.“

      „Tun Sie das nicht auch?“ Sein Lächeln verwirrte


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